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Zimmermann, Michael F.
Industrialisierung der Phantasie: der Aufbau des modernen Italien und das Mediensystem der Künste; 1875 - 1900 — München, Berlin, 2006

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https://doi.org/10.11588/diglit.43202#0357

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ANMERKUNGEN

ner) 1932, Bd. 1, 1-59, 307-328. Die neuere kunsthistorische Debatte stellt
die Tatsache in den Vordergrund, dass Warburgs Vorstellungen von Semio-
sis eine andere Konzeption von Kulturanthropologie und -psychologie zu-
grunde liegt als beim frühen Erwin Panofsky, der sich beim späten Panofsky
wiederum wandelte. Darauf kann hier nur verwiesen werden. Im weitesten
Sinne soll diese Studie natürlich einem komplexeren Begriff der Semiosis als
dem der klassischen Ikonographie das Wort reden. Über die Geschichte von
Denkmodellen der Semiosis, des Bezugs von Zeichen auf Wirklichkeit, vgl.:
Tzvetan Todorov 1977; dt. von Beat Gyger: Tzvetan Todorov 1995. - Bei der
Übertragung christlicher Pathosformeln aufThemen der bürgerlichen Gesell-
schaft oder gar des Nationalstaats wird auf eine am Beispiel des einzelnen
Kunstwerks in seinem jeweiligen Rezeptionsrahmen zu studierende Art deren
ethischer Anspruch ins Spiel gebracht. Im späten 18. Jahrhundert etwa wird
der Entzauberung der Verhältnisse durch die kontrastierende Verwendung
religiöser Motive in karikierenden Sittenstücken verdeutlicht, bevor Zitate
religiöser Sujets gerade durch Adaption ihrer Ethizität der Versachlichung in
bürgerlichen Gesellschaften entgegenwirken. Vgl. dazu Werner Busch 1977;
sowie ders. 1993. In der illustrierten Presse setzten sich derartige Vorgänge
fort. Nicht zufällig haben sie, wie Busch zeigt, mit Beginn einer Malerei ein-
gesetzt, die sich an eine bürgerliche Öffentlichkeit richtet. Säkularisierende
Adaptierungen spielen in der massenhaften Illustration wohl auch deswegen
eine bedeutende Rolle, weil dieses Bildgut sich auch an Schichten wandte, die
erst in bürgerliche Verhältnisse aufgestiegen waren, deren Rezeptionshaltung
mithin in der Regel von religiösen Bildstoffen geprägt war. Mit der Zeit wur-
den religiöse Motive zu Bildzeichen für psychisch Archetypisches umgeprägt,
die neben der religiösen auch eine bürgerliche Konnotation nicht erst gewan-
nen, sondern von vorneherein beinhalteten.
10 Vgl. allgemein zu der Problematik die Aufsatzbände: Stephane Michaud, Jean-
Yves Mollier ünd Nicole Savy 1992; Petra Ten-Doesschate Chu und Gabriel
P. Weisberg 1994.
11 Herbert M. Atherton 1974; Jörg Döring 1991.
12 Zur Bildpropaganda der französischen Revolution: Klaus Herding und Rolf
Reichardt 1989.
13 Zur Technik der Lithographie und ihren künstlerischen Folgen: Henry De-
laborde, »La Lithographie dans ses rapports avec la peinture. Charlet, Vernet,
Delacroix, Bonington, Deveria, Decamps, Raffet, Gavarni (1816—1863)«, in:
Revue des Deux Mondes, 47, 1.10.1863, 554-570; Jean Adhemar 1983; (kurze
Einführung) ders. 1975, 8—9; McAllister W. Johnson 1977. Vgl. auch: James
Cuno 1985; Beatrice Farwell 1989.
14 Einfuhrend zu Daumier: Bruce Laughton 1996.
15 Segolene LeMen 1993; Charlotte N. Eyerman, »Im Zeichen der Grande
Tradition. Lithographen im Atelier des Baron Gros, 1816-18135«, in: Stefan
Germer u. Michael F. Zimmermann 1997,176-191.
16 Elke Hilscher 1977.
17 Der Ausdruck »Jargon« wurde hier für den wenn auch nicht genau definier-
ten, so doch immerhin präziseren Begriff »skaz« der russischen Formalisten
gewählt, der seit langer Zeit Eingang in die literaturwissenschaftliche De-
batte gefunden hat. Gemeint ist damit zunächst die Technik der literarischen
Prosa, zu Anfang der Geschichte eine fiktive Gestalt einzuführen, in deren
Namen und sprachlichem Duktus dann erzählt wird - wobei der eigentliche
Reiz meist in der Distanz des Autors von diesem fiktiven Erzähler liegt. Da-
von ausgehend wird der Begriff zur Charakterisierung der Rhetorik und des
Bildungshorizontes des Prosa-Erzählers verwendet - auch dann, wenn ein-
fach der Stil eines bestimmten Publikums getroffen werden soll, das der Autor
dem Text erschließen möchte. In dieser allgemeineren Bedeutung wird hier
und auch im Folgenden von »Jargon« geredet. Vgl. Boris Ejchenbaum, »Wie
Gogols >Mantel< gemacht ist«, in: Striedter 1994, 123-158. Überblick über
die verschiedenen Definitionen bzw. Sinnschichten des Begriffs: Martin P.
Rice 1975. Eine Analyse von Skaz vor dem Hintergrund der Sprechakttheo-
rie und des Stilisierungs-Begriffs von Michail Bachtin: Peter Hodgson 1983,
119—154. »Skaz« macht auch die Sprache als Medium im sprachlichen Gefüge
bewusst. Dabei ist, gemäß schon Bachtins Kritik an Ejkhenbaum, zu beachten,
dass »skaz« nicht nur Rede in der Rede ist, sondern vor allem fremde Rede,
also Sprechen im Namen eines anderen. Zudem gerät die Aufgeschriebenheit
(zapisanost) stärker in den Blick. Vgl. zu diesem neuerdings stärker betonten
Aspekt: Natascha Drubek-Meyer und Holt Meyer 1997,107-154. Überträgt
man diese Aspekte auf Werke der Zeichnung, der graphischen Künste und der
Malerei, ergeben sich folgende Ansätze: 1. »Skaz« sind der Pinselduktus und
die bewusst gewählte Stillage in einem Bild, sofern sie sich im Bild selbst und
im Werk eines Künstlers deutlich wandeln und dabei auf das Sujet und den
narrativen Tonfall eingeht. 2. Der Duktus beruht auf einer Übertragung des
Gesehenen nicht nur in die durch Traditionen der Kunst geprägte Welt visu-
eller Zeichen, sondern auch auf die Leinwand, durch die unmittelbar maleri-
sche Aktivität von Zeichner und Maler. Dabei kann er Bemühungen deutlich
machen wie die, das Verfahren hinter der Illusion verschwinden zu lassen oder

aber es vorzuzeigen, durch Sorgfalt der Ausführung oder aber durch Flüch-
tigkeit wie auch durch Genialität oder »Charme« etc. zu bestechen etc. 3. Der
Duktus (wie der »skaz«) entspricht nicht nur den Bedürfnissen des Malers
oder Zeichners, sondern er entspricht einer visuellen Sprache bzw. einem »Jar-
gon«, von dem dieser erhofft, das Publikum werde ihn sich zu eigen machen
- sofern er nicht sogar voraussetzt, er könne in diesem malerischen Idiom
besonders auf Verständnis rechnen. (Letzteres wäre vor allem am Beispiel der
Karikatur zu verdeutlichen.)
18 Vgl. Anmerkung 1. Einzelstudien sind rar. Siehe etwa: Celina Fox 1978; Da-
vid Kunzle 1979; Jean-Noel Marchandiau 1987; Krishnä Renou 1987; Celina
Fox 1978; Adelheid Stielau 1976; Stanley Applebaum 1978; Hartwig Ge-
bhardt, »Auf der Suche nach nationaler Identität. Publizistische Strategien
in der Leipziger >Illustrirten Zeitung< zwischen Revolution und Reichsgrün-
dung«, in: Stefan Germer u. Michael F. Zimmermann 1997, 310—323.
19 Allan Ellenius 1983.
20 Zu den Voraussetzungen des Ausstellungsbooms im 19. Jahrhundert: Georg
Friedrich Koch 1967, bes. 124ff; zur Entstehung des modernen Ausstellungs-
betriebs besonders in England: Maximiliane Drechsler 1996; exemplarische
Studien zum französischen Ausstellungswesen seit der Jahrhundertwende:
Patricia Mainardi 1993.
21 Einführend zu aktuellen Fragestellungen der Forschungsdebatte um die
Kunstkritik: Thomas W. Geahtgens, Uwe Fleckner 1999; die Erforschung der
Kunstkritik des 19. und 20. Jahrhunderts in Italien hat sich nach hoffnungs-
vollen Anfängen nur mühsam entwickelt - Zeichen für das leider noch gerin-
ge Interesse für rezeptionsästhetische Fragestellungen in Italien. Vgl. daher
zur Einführung immer noch: Paola Barocchi 1972; dies. 1974.
22 Aufschlussreich für die Ausdifferenzierung eines avantgardistischen Kunstpu-
blikums: Malcolm Gee 1981.
23 Einführend zur Malerei des Naturalismus in Frankreich und Europa: Gabriel
P. Weisberg 1980; ders. 1992.
24 Der Begriff der Suggestion geht zurück auf die Diskussion über Strategien
der Hypnose durch den Rückgriff auf mnemotechnisch hochwirksame Bil-
der, vor allem auf: Hippolyte Bernheim, Die Suggestion und ihre Heilwirkung,
übers, von Sigmund Freud, [Leipzig und Wien, 1888] Facsimile-Nachdruck
Tübingen (ed. discord) 1985. Weiterentwickelt wurde der Begriff von Souriau
und Guyau. Vgl.: Paul Souriau, La Suggestion dans l’art, Paris (F. Alcan) 1893;
Jean-Marie Guyau, Lesproblemes de l'esthetique contemporaine, Paris (F. Alcan)
1884. Es wird noch zu demonstrieren sein, was Verfahren kinematographi-
scher Suggestion dieser Debatte zwischen Psychologie, Psycho-Physiologie
und Ästhetik verdanken.
25 Dass Künstler wie Gros, Gericault, Courbet und vor allem Manet auf die
durch populäres Bildgut geformte Phantasie eingingen, ist seit Meyer Schapi-
ro ein Allgemeinplatz. Zusammenfassung erörtert die Wechselwirkung: Tho-
mas Crow 1996, vor allem das seit 1981 immer wieder überarbeitete Kap. 1,
Modernism and Mass Culture in the Visual Arts, 3—37.
26 Meyer Schapiro, »Courbet und volkstümliche Bildwerke. Ein Essay über
Realismus und Naivität«, [1941] in: ders. 1981, 58-93; Linda Nochlin 1971.
Spätere Sozialgeschichte, die nicht primär künstlerische Bilder heranzieht,
bedenkt oft weniger deren Eigenästhetik als deren Bedeutung für die hohe
Kunst. Beatrice Farwell 1981; Theodore Reff 1976.
27 Beispielhaft ist ein Modell literarischer Entwicklung zwischen künstlerischer
Sprache und Alltagssprache, wie es die russischen Formalisten gegen Ende
der zwanziger Jahre entwickelt haben, bevor die stalinistische Entwicklung
sie mundtot machte. Vgl. Jurij Tynjanov, »Über die literarische Evolution«, in:
Striedter 1994, 433-460; Boris Ejkhenbaum, »Das literarische Leben«, ebd.,
463-480. Zur ersten Einführung: Krystina Pomorska 1968, 21-42; gründli-
cher: Aage A. Hansen-Löve 1978, 369-425.
28 Die Fragestellungen im Zusammenhang mit der Nationenbildung im 19.
Jahrhundert füssen hier besonders auf den analytischen Theorien von Miros-
lav Hroch 1985; ders., »Das Bürgertum in den nationalen Bewegungen des
19. Jahrhunderts. Ein europäischer Vergleich«, in: Jürgen Kocka [1988] Bd. 3,
1995, 197—219; ders., »Nationales Bewußtsein zwischen Nationalismustheo-
rie und der Realität der nationalen Bewegungen«, in: Eva Schmidt-Harmann
1994,15-38. Eine knappe Darstellung von Begriff und Entwicklung des Bür-
gertums im 19. Jh. in Italien: Marco Meriggi, »Italienisches und deutsches
Bürgertum im Verlgeich«, in: Jürgen Kocka [1988] Bd. 1,1995,147-165. Me-
riggi betont, dass die politischen Strukturen angesichts des geringen Organi-
sationsgrades in Italien lange eine zentrale Bedeutung für die Bildung eines
nationalen Bürgertums behielten — dies trotz der späten Entwicklung eines
modernen Parteiensystems. Konsequenz ist für ihn auch die Herausbildung
des Klientelsystems. Die überragende Bedeutung der Presse für die Einigung
des bürgerlichen Bewusstseins wäre eine andere Konsequenz aus der von ihm
zusammengefassten Sachlage. Grundlegende Einführung zur Bürgertums-
forschung, der die differenzierte Betrachtung von Rezeptionsverhalten in der
Kunst verpflichtet bleiben muss: Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit

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