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VITRUVS PROPORTIONSFIGUR

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15. und Cesare Cesariano im 16. Jahrhundert vorweggenommen wurde, findet
in der hier vorgeschlagenen metrologischen Erklärung des Vitruvischen Propor-
tionskanons nur teilweise eine Bestätigung, denn die Konjektur löst den
Widerspruch nicht vollständig auf. Durch eine Verlagerung des Meßpunktes für
den Wert von 1/4 zur Brustmitte wird zwar dessen Relation zu 1/6 in den
Bereich des realistischen gerückt, doch gleichzeitig haben beide Dimensionen,
1/4 und 1/6, dann keinen zweiten gemeinsamen Bezugspunkt mehr. D.h. es
kann rechnerisch nicht mehr überprüft werden, ob beide Angaben, sowohl jene
die Werte 1/10 und 1/8 als auch jene die Werte 1/6 und 1/4 betreffenden, in der
Längenbestimmung des Abstandes vom Haaransatz bis zum Scheitel
koinzidieren oder nicht. Diese fehlende Möglichkeit könnte eine Folge von
Vitruvs Operation sein, ein im metrologischen Sinne nicht widerspruchsfreies
Maß in seinen Proportionskanon eingeführt zu haben, denn das als ein Zehntel
der Körperhöhe definierte öpdööopov war nicht das nächstliegende der sich
anbietenden Standardmaße (s.o.). Außerdem lehrt ein Blick auf das griechische
metrologische System (vgl. Appendix 2), daß 1/10 als rechnerische Einheit eher
in ein dezimal kalkuliertes denn in ein duodezimal berechnetes Maßsystem
paßt. Die einfachsten Werte der griechischen Metrologie wie die Elle (1/4), der
Fuß (1/6), die große Spanne (1/8), die kleine Spanne (1/12), die Handbreite
(1/24) und die Fingerbreite (1/96) sind relativ einfach auf einen gemeinsamen
Nenner zu bringen und damit rechnerisch operabel, während dies mit der
Dimension von einem Zehntel wesentlich komplizierter wäre. Das mit 1/10
definierte öpdoöopov war also von vornherein ein problematisches Maß, und
seine Problematik erstreckt sich sowohl auf Vitruvs Proportionskanon selbst als
auch auf dessen Rezeption seit der Renaissance.
3. Brüche
Die von Vitruv angegebenen Proportionen sind zu ungenau und vor allem zu
unvollständig, um für antike Maler und Bildhauer ernsthaft brauchbar gewesen
sein zu können. Ihre Benutzung wäre lediglich als eine grobe Richtlinie für das
Anfangsstadium einer aufrecht stehenden Figur möglich oder, in der
Bildhauerei, für die Anfertigung des im Steinbruch üblicherweise grob vor-
gearbeiteten Blocks nützlich gewesen18, nicht aber als verbindliches Maß für
differenziertere Arbeiten. Der Ruhm, den Vitruv im Zusammenhang mit den
angegebenen Proportionen erwähnt, dürfte also nicht nur auf die beschriebenen
Maße selbst zurückzuführen sein. Wahrscheinlicher ist, daß Vitruvs Angaben
gleichzeitig Prinzipien oder Reminiszenzen eines Systems repräsentieren, nach
denen antike Künstler einer von Vitruv rezipierten Epoche gearbeitet haben.
Ebenso sollte auch hinsichtlich der architektonischen Relevanz dieser Propor-
tionen zwischen den Maßen selbst und dem ihnen zugrundeliegenden Prinzip
unterschieden werden. Zunächst wurden natürlich Standardmaße in der Archi-
tektur verwendet, etwa für die absolute Größe des Bauplatzes, die maximale
oder minimale Ausdehnung des Gebäudes, die Abmessungen vorgefertigter
Baumaterialien oder die Dimensionen unveränderlicher Bautypen. Vitruv selbst
verwendet Maße wie Elle, Fuß und Fingerbreite für bestimmte Materialien
18 Vgl. S. ADAM, The Technique of Greek Sculpture in the Archaic and Classical Periods,
Oxford 1966, S.7; allgemein vgl. C. BLUEMEL, Greek Sculptors at Work, 2.Aufl., London 1969.
 
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