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KAPITEL II
6.2.1.); d.h. das in der Regel im Deutschen mit »berechnet« übersetzte
commensus (1.3.2.) der symmetrischen Verhältnisse (symmetriarum
ratiocinationes, 1.3.2.) entstammt dem griechisch mit metron (perpov) und
lateinisch mit mensura bezeichneten bestimmten Maß. Die eurythmia hingegen
repräsentiert ein der symmetria korrespondierendes aber nichtsdestoweniger
anderes, nämlich übergeordnetes Prinzip:
Eurythmia ist das anmutige Aussehen und der in der Zusammensetzung der
Glieder symmetrische Anblick. Sie wird erzielt, wenn die Glieder des Bauwerks in
zusammenstimmendem Verhältnis von Höhe zur Breite und von Breite zur Länge
stehen, überhaupt alle Teile der ihnen zukommenden Symmetrie entsprechen.48
Dieses eurythmia genannte andere Prinzip beruht zwar auf der aus den
mensurae abgeleiteten Verhältnissen, ist aber als commodus aspectus nicht mit
diesen identisch. Der mit Verhältnismäßigkeit (com-modus) erzielte anmutige
Anblick (venusta species, aspectus) ergibt sich aus der Anordnung der Glieder
und deren Relation zu Länge, Breite und Höhe des Gebäudes. Die eurythmia ist
somit die Verhältnismäßigkeit oder Wohlproportioniertheit, die nicht nur aus
den mit dem modulus oder der mensura (con-mensus, 6.2.1.) berechneten
Maßen (symmetriarum ratiocinationes, 1.3.2.) oder gemessenen Dimensionen,
sondern auch aus den Prinzipien einer mit modus (com-modus, 1.2.3.)
realisierten Gesamtkomposition resultiert. Bei Xenophon und Heron wird
eurythmia denn auch im Sinne einer verhältnismäßigen Wohlproportioniertheit
oder Harmonie benutzt49, während symmetria für Euklid das Verhältnis
kommensurabler, d.h. mit gleichem Maß meßbarer Strecken ist.50
Wie weit sich das Prinzip der symmetria von demjenigen der eurythmia
unterscheidet, zeigt sich in Vitruvs Diskussion jener Modifikationen, der sich
die Symmetrien aufgrund optischer Täuschungen zu unterziehen haben. Dort
nämlich wird die unbedenkliche Abänderung der symmetria empfohlen, um den
täuschbaren Augen einen korrekten Anblick der eurythmia (aspectus
eurythmiae, 6.2.5.) zu gewährleisten. Das Maßsystem, die auf der mensura
beruhende Symmetrie, kann unbedenklich modifiziert werden, und die
eurythmia ist dabei das übergeordnete ästhetische Prinzip, innerhalb dessen
diese Modifikationen geschehen. Für die Abänderung der Symmetrien
(commutatio symmetriarum, 6.1.5.) gibt Vitruv größtenteils eher un-
systematische Faustregeln (3.3.12.; 3.5.10-12.; 6.3.4.), doch die modifizierten
Proportionierungen für das ionische Gebälk (3.5.10-12.) gehorchen immerhin
dem Prinzip, einzelne Dimensionen sukzessive in Bruchteilen vorangegangener
Werte anzugeben. Dieses Prinzip aber ist in der Praxis identisch mit
demjenigen, das sich sowohl aus Philons Benutzung metrologischer
Konventionen als auch aus Vitruvs metrologisch definiertem und die Bedeutung
von Brüchen betonenden Proportionskanon ergibt. Wenn etwa der zophorus
über dem Architrav um 1/4 schmaler sein soll als der Architrav selbst, so muß
das gewünschte Maß, nämlich 3/4 der Architravstärke, mit einem Maßstab der
von Philon beschriebenen Art ermittelt und übertragen werden. Die
Kalibrierung basiert hier allerdings auf einfachen Vierteln und nicht auf
48 Eurythmia est venusta species commodusque in compositionibus membrorum aspectus. Haec
efficitur, cum membra operis convenientia sunt altitudinis ad latitudinem, latitudinis ad
longitudinem, et ad summarn omnia respondent suae symmetriae. VITRUV, De architectura
1.2.3.
49 XENOPHON, Memorabilia 3.10.12.; HERON ALEXANDRINUS, Definitiones 135.13.
50 EUKLID, Elementa 10.1.
KAPITEL II
6.2.1.); d.h. das in der Regel im Deutschen mit »berechnet« übersetzte
commensus (1.3.2.) der symmetrischen Verhältnisse (symmetriarum
ratiocinationes, 1.3.2.) entstammt dem griechisch mit metron (perpov) und
lateinisch mit mensura bezeichneten bestimmten Maß. Die eurythmia hingegen
repräsentiert ein der symmetria korrespondierendes aber nichtsdestoweniger
anderes, nämlich übergeordnetes Prinzip:
Eurythmia ist das anmutige Aussehen und der in der Zusammensetzung der
Glieder symmetrische Anblick. Sie wird erzielt, wenn die Glieder des Bauwerks in
zusammenstimmendem Verhältnis von Höhe zur Breite und von Breite zur Länge
stehen, überhaupt alle Teile der ihnen zukommenden Symmetrie entsprechen.48
Dieses eurythmia genannte andere Prinzip beruht zwar auf der aus den
mensurae abgeleiteten Verhältnissen, ist aber als commodus aspectus nicht mit
diesen identisch. Der mit Verhältnismäßigkeit (com-modus) erzielte anmutige
Anblick (venusta species, aspectus) ergibt sich aus der Anordnung der Glieder
und deren Relation zu Länge, Breite und Höhe des Gebäudes. Die eurythmia ist
somit die Verhältnismäßigkeit oder Wohlproportioniertheit, die nicht nur aus
den mit dem modulus oder der mensura (con-mensus, 6.2.1.) berechneten
Maßen (symmetriarum ratiocinationes, 1.3.2.) oder gemessenen Dimensionen,
sondern auch aus den Prinzipien einer mit modus (com-modus, 1.2.3.)
realisierten Gesamtkomposition resultiert. Bei Xenophon und Heron wird
eurythmia denn auch im Sinne einer verhältnismäßigen Wohlproportioniertheit
oder Harmonie benutzt49, während symmetria für Euklid das Verhältnis
kommensurabler, d.h. mit gleichem Maß meßbarer Strecken ist.50
Wie weit sich das Prinzip der symmetria von demjenigen der eurythmia
unterscheidet, zeigt sich in Vitruvs Diskussion jener Modifikationen, der sich
die Symmetrien aufgrund optischer Täuschungen zu unterziehen haben. Dort
nämlich wird die unbedenkliche Abänderung der symmetria empfohlen, um den
täuschbaren Augen einen korrekten Anblick der eurythmia (aspectus
eurythmiae, 6.2.5.) zu gewährleisten. Das Maßsystem, die auf der mensura
beruhende Symmetrie, kann unbedenklich modifiziert werden, und die
eurythmia ist dabei das übergeordnete ästhetische Prinzip, innerhalb dessen
diese Modifikationen geschehen. Für die Abänderung der Symmetrien
(commutatio symmetriarum, 6.1.5.) gibt Vitruv größtenteils eher un-
systematische Faustregeln (3.3.12.; 3.5.10-12.; 6.3.4.), doch die modifizierten
Proportionierungen für das ionische Gebälk (3.5.10-12.) gehorchen immerhin
dem Prinzip, einzelne Dimensionen sukzessive in Bruchteilen vorangegangener
Werte anzugeben. Dieses Prinzip aber ist in der Praxis identisch mit
demjenigen, das sich sowohl aus Philons Benutzung metrologischer
Konventionen als auch aus Vitruvs metrologisch definiertem und die Bedeutung
von Brüchen betonenden Proportionskanon ergibt. Wenn etwa der zophorus
über dem Architrav um 1/4 schmaler sein soll als der Architrav selbst, so muß
das gewünschte Maß, nämlich 3/4 der Architravstärke, mit einem Maßstab der
von Philon beschriebenen Art ermittelt und übertragen werden. Die
Kalibrierung basiert hier allerdings auf einfachen Vierteln und nicht auf
48 Eurythmia est venusta species commodusque in compositionibus membrorum aspectus. Haec
efficitur, cum membra operis convenientia sunt altitudinis ad latitudinem, latitudinis ad
longitudinem, et ad summarn omnia respondent suae symmetriae. VITRUV, De architectura
1.2.3.
49 XENOPHON, Memorabilia 3.10.12.; HERON ALEXANDRINUS, Definitiones 135.13.
50 EUKLID, Elementa 10.1.