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KAPITEL III
Einige Beispiele
Das spärliche Auftauchen Vitruvs in den Schriftquellen zur Kunst und
Architektur des Mittelalters sowie die architekturhistorisch wenig über-
zeugenden Belege in seiner mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte legen eine
erneute Überprüfung der bisherigen Thesen zu diesem Thema nahe. Das gilt vor
allem für die Versuche, in mittelalterlichen Bauten Zahlen und Zahlen-
verhältnisse nachzuweisen, die bei Vitruv tatsächlich oder vermeintlich auf-
tauchen. Ein Beispiel dieser Art ist die von H. Roggenkamp vorgetragene Auf-
fassung, daß eine gegen Ende des 10. Jahrhunderts in Hildesheim verfügbare
Vitruvhandschrift nicht ohne Folgen für den Bau der dortigen Michaeliskirche
geblieben sei. Diese These bleibt jedoch insofern unbegründet, als Roggenkamp
selbst die Schriften Boethius', Gerberts und Roswithas von Gandersheim als
proportionstheoretische Grundlage für St.Michael namhaft zu machen versucht;
Vitruv erscheint hier völlig deplaziert.29
Aufgrund einer Reihe von Messungen hat K. J. Conant zu zeigen versucht,
daß in Cluny III (beg. 1089) die Länge des Gesamtbaus auf der vermeintlich bei
Vitruv definierten perfekten Zahl beruhe.30 Diese Behauptung kann man
allerdings schwer nachvollziehen, da Vitruv lediglich die Zahlen 6, 10 und 16
als perfekt bezeichnet, nicht aber die in Cluny angeblich verwandte 496. Diese
gilt zusammen mit 6 und 28 als eine perfekte Zahl, weil sie die Summe ihrer
echten Teiler ist. Sie kann jedoch mithilfe der Angaben Vitruvs nicht ermittelt
werden und geht wahrscheinlich auf Boethius zurück, der 496 tatsächlich als
perfekte Zahl nennt.31 Ebensowenig plausibel ist Conants Annahme, daß eine in
Cluny möglicherweise praktizierte Proportionierung durch die Quadrat-
verdopplung auf Vitruv (6.3.3.) zurückgehe, denn diese Methode basiert auf
dem in der mittelalterlichen Baupraxis üblichen Verfahren der Quadratur.
Auch andere Theorien über Vitruv in der Baukunst des Mittelalters wären
eine Überprüfung wert; so beruhen Frankls Argumente auf einem unscharfen
Verständnis architekturtheoretischer Begriffe wie dispositio und symmetria
sowie auf der kaum beweisbaren Annahme, daß diese Begriffe, die auch durch
andere lateinische Autoren überliefert sind, baupraktisch von Belang gewesen
seien.32 Einer eingehenderen Überprüfung bedürften auch die von Carol Heitz
angeführten Beispiele, denn für seine oft nur stilistischen und eher
atmosphärischen Zuweisungen gibt es in den Quellen keine ausreichenden
Belege.33
29 H. ROGGENKAMP, Maß und Zahl, in: ROGGENKAMP/BESELER, Die Michaeliskirche in
Hildesheim, Berlin 1954, S.119-181, bes. S.148-150.
30 K. J. CONANT, The Afterlife of Vitruvius in the Middle Ages, in: Journal of the Society of
Architectural Historians 27.1968, S.33-38.
31 BOETHIUS, De institutione arithmetica 1.20., Ed. Friedlein, S.41-45; vgl. M. MASI, Boethian
Number Theory. A Translation of the »De institutione arithmetica«, Amsterdam 1983, S.98-100.
32 P. FRANKL, The Gothic. Literary Sources and Interpretations Through Eight Centuries,
Princeton (N.J.), 1960, passim.
33 Vgl. HEITZ, Vitruve, S.725 und passim; seine Belege aus MORTET, Recueil de textes, Bd.l,
Nr.72 und 147, S.240-241 und S.376 sind zweifelhaft und seine sonstigen Zuweisungen kaum
verifizierbar.
KAPITEL III
Einige Beispiele
Das spärliche Auftauchen Vitruvs in den Schriftquellen zur Kunst und
Architektur des Mittelalters sowie die architekturhistorisch wenig über-
zeugenden Belege in seiner mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte legen eine
erneute Überprüfung der bisherigen Thesen zu diesem Thema nahe. Das gilt vor
allem für die Versuche, in mittelalterlichen Bauten Zahlen und Zahlen-
verhältnisse nachzuweisen, die bei Vitruv tatsächlich oder vermeintlich auf-
tauchen. Ein Beispiel dieser Art ist die von H. Roggenkamp vorgetragene Auf-
fassung, daß eine gegen Ende des 10. Jahrhunderts in Hildesheim verfügbare
Vitruvhandschrift nicht ohne Folgen für den Bau der dortigen Michaeliskirche
geblieben sei. Diese These bleibt jedoch insofern unbegründet, als Roggenkamp
selbst die Schriften Boethius', Gerberts und Roswithas von Gandersheim als
proportionstheoretische Grundlage für St.Michael namhaft zu machen versucht;
Vitruv erscheint hier völlig deplaziert.29
Aufgrund einer Reihe von Messungen hat K. J. Conant zu zeigen versucht,
daß in Cluny III (beg. 1089) die Länge des Gesamtbaus auf der vermeintlich bei
Vitruv definierten perfekten Zahl beruhe.30 Diese Behauptung kann man
allerdings schwer nachvollziehen, da Vitruv lediglich die Zahlen 6, 10 und 16
als perfekt bezeichnet, nicht aber die in Cluny angeblich verwandte 496. Diese
gilt zusammen mit 6 und 28 als eine perfekte Zahl, weil sie die Summe ihrer
echten Teiler ist. Sie kann jedoch mithilfe der Angaben Vitruvs nicht ermittelt
werden und geht wahrscheinlich auf Boethius zurück, der 496 tatsächlich als
perfekte Zahl nennt.31 Ebensowenig plausibel ist Conants Annahme, daß eine in
Cluny möglicherweise praktizierte Proportionierung durch die Quadrat-
verdopplung auf Vitruv (6.3.3.) zurückgehe, denn diese Methode basiert auf
dem in der mittelalterlichen Baupraxis üblichen Verfahren der Quadratur.
Auch andere Theorien über Vitruv in der Baukunst des Mittelalters wären
eine Überprüfung wert; so beruhen Frankls Argumente auf einem unscharfen
Verständnis architekturtheoretischer Begriffe wie dispositio und symmetria
sowie auf der kaum beweisbaren Annahme, daß diese Begriffe, die auch durch
andere lateinische Autoren überliefert sind, baupraktisch von Belang gewesen
seien.32 Einer eingehenderen Überprüfung bedürften auch die von Carol Heitz
angeführten Beispiele, denn für seine oft nur stilistischen und eher
atmosphärischen Zuweisungen gibt es in den Quellen keine ausreichenden
Belege.33
29 H. ROGGENKAMP, Maß und Zahl, in: ROGGENKAMP/BESELER, Die Michaeliskirche in
Hildesheim, Berlin 1954, S.119-181, bes. S.148-150.
30 K. J. CONANT, The Afterlife of Vitruvius in the Middle Ages, in: Journal of the Society of
Architectural Historians 27.1968, S.33-38.
31 BOETHIUS, De institutione arithmetica 1.20., Ed. Friedlein, S.41-45; vgl. M. MASI, Boethian
Number Theory. A Translation of the »De institutione arithmetica«, Amsterdam 1983, S.98-100.
32 P. FRANKL, The Gothic. Literary Sources and Interpretations Through Eight Centuries,
Princeton (N.J.), 1960, passim.
33 Vgl. HEITZ, Vitruve, S.725 und passim; seine Belege aus MORTET, Recueil de textes, Bd.l,
Nr.72 und 147, S.240-241 und S.376 sind zweifelhaft und seine sonstigen Zuweisungen kaum
verifizierbar.