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KAPITEL III

um die allgemeine Darstellung des menschlichen Körpers mit einer Reihe
physiologischer Angaben zu versehen. Ob Vincenz dabei die Proportionsfigur
Vitruvs in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang hat stellen wollen, ist dem
Text nicht zu entnehmen.
Die anderen drei Bezüge zu Vitruvs Proportionsfigur sind weniger eindeutig;
Guillaume de Saint-Thierry beschreibt in seiner kurzen Abhandlung über
Körper und Seele des Menschen eine Figur, die in dieser Formulierung tat-
sächlich nur aus Vitruv bekannt ist:
Die Naturkundler nämlich sagen, wenn der Mensch mit ausgestreckten Händen
und Gliedern auf seinem Rücken liegt und der im Zentrum des Nabels gelegene
Zirkel nach allen Seiten gewendet wird, trifft er [der Mensch] durch den
ungehinderten Verlauf des Umfanges alle seine Teile und sich selbst glei-
chermaßen.54
Die vom Wortlaut Vitruvs verschiedene Formulierung Guillaumes ist insofern
bemerkenswert, als die anderen mittelalterlichen Rezipienten sich in der Regel
an Syntax und Wortwahl Vitruvs orientieren. Ebenso merkwürdig sind auch die
Naturkundler oder Doktoren (physici), die Guillaume als Quellen für seinen
Mann im Kreis angibt, denn mit dieser Formulierung dürfte er sich schwerlich
auf Vitruv beziehen. Entweder lag ihm Vitruv nur mittelbar vor, oder er
schöpfte aus heute unbekannten Schriften medizinischer Art, die, ähnlich wie
die Werke Galens55, Ausführungen über den Nabel als Mittelpunkt des Körpers
enthielten; das jedenfalls würde die Bezeichnung physici erklären.56
Andererseits kämen auch metrologische Anschauungen als Quellen infrage,
gemäß denen das größte anthropomorphe Standardmaß durch die Länge eines
Menschen definiert wird, der seine Arme über dem Kopf ausstreckt; in dieser
Position befindet sich das Zentrum des Menschen tatsächlich im Nabel.
Überlieferungen dieser Art sind sowohl aus der indischen Manasara als auch
aus byzantinischen Quellen bekannt, und ähnliche Angaben bei Agrippa von
Nettesheim im 16. und bei Vincenzo Scamozzi im 17. Jahrhundert zeugen von
einer weitverbreiteten Tradition (vgl. Kap. II).
Auch Ristoro d'Arezzos Beschreibung des Menschen weist einerseits einige
Übereinstimmung mit den Angaben Vitruvs auf, weicht aber andererseits von
diesen ab:
Und der Körper der Welt mit seiner Stärke, die er vom höchsten Gott [erhalten]
hat, soll gemäß einer Kalkulation (rascione) vollständig von einem Teil zum
anderen und von einem Glied zum anderen proportioniert sein: wie der Körper des
Menschen, der billigerweise zugleich mit seiner Tugend [und] durch Proportion in
einem zum anderen Teil und in einem zum anderen Glied in der Weise
harmonieren (respöndere) soll, so daß weder der Kopf noch die Füße oder andere
Glieder größer oder kleiner seien und sie sich dem [gesamten] Körper anpassen.
Und die gelehrten Zeichner (desegnatori), denen von der Natur gegeben und
zugestanden war, die Dinge der Welt zu entwerfen und zu zeichnen, teilten, als sie
daran gingen, die Figur des Menschen abzubilden, den Raum in zehn gleiche
Teile; und vom obersten Teil machten sie das Gesicht, und von dort blieben nach

54 Dicunt enim physici quia si homo supinus extensis manibus et membris jaceat, si circinum in
centro umbilici locatum undique circumvolvatur, inoffenso mensurae cursu in omnibus partibus
suis par sibi et aequalis inveniatur. GUILLAUME DE SAINT-THIERRY, De natura corporis et
animae libri duo 1, PL180, Sp.708B.

55 GALEN, De placitis Hippocratis et Platonis 2, Ed.Kühn, Bd.5, S.230, und De usu partium
corporis humani 15.4., Ed.Kühn, Bd.4, S.227.

56 Medizinische Schriften waren teilweise auch die Quellen für Guillaumes Ausführungen (ich
verdanke diese Auskunft Charles Burnett, London).
 
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