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KAPITEL IV
tatsächlich - wie zu Beginn des Traktats geschildert - beim Essen über Architek-
tur unterhielten, sei dahingestellt. Jedenfalls würde bei einer kurzweiligen
Thematisierung der Baukunst auch der Antropomorphismus zur Sprache
gekommen sein, und Vitruvs Proportionsfigur wäre in diesem Falle das antike
Etikett für eine ansonsten geläufige Vorstellung.
4. Francesco di Giorgio Martini
Francesco di Giorgio Martini (1439-1501) war der Sohn eines Sieneser Geflü-
gelhändlers und ein vielseitig ausgebildeter Ingenieur, Festungsbaumeister,
Bildhauer, Maler und Architekt. Er arbeitete für die Kommune von Siena, für
Alfonso von Kalabrien und besonders für den Hof der Montefeltre in Urbino."
Francescos Trattati di architettura ingegnaria e arte militare liegen in zwei
stark unterschiedlichen Versionen und in mehreren, allerdings nicht auto-
graphischen Handschriften vor.44 Die erste Gruppe von Manuskripten mit den
frühen und theoretisch weniger ausgereiften Versionen der Traktate umfaßt den
Codex Saluzzianus 148 (Turin, Biblioteca Reale), den Codex Ashburnhamianus
361 (Florenz, Biblioteca Laurenziana) sowie - allerdings mit Einschränkungen -
den Codex Spencer 129 (New York, Public Library). Hinzu kommt
möglicherweise eine weitere Abschrift in einer Venezianischen Handschrift.45
Die frühesten dieser Versionen, der Saluzzianus und der Ashburnhamianus, sind
mit ziemlicher Sicherheit vor 1476 verfaßt worden, also noch ehe Francesco
gegen 1477 in die Dienste Federigo da Montefeltres trat. Der Codex Spencer
entstand während Francescos erster Tätigkeit für Alfonso von Kalabrien in den
Jahren 1479 bis 1480.46
Chronologisch an letzter Stelle stehen jene beiden Handschriften, die spätere
und theoretisch ausgereiftere Versionen der Trattati enthalten, die Codices
S.IV.4. (Siena, Biblioteca Communale) und Magliabechianus ILI.141. (Florenz,
Biblioteca Nazionale). Das Florentiner Manuskript ist zwischen 1489 und 1492
zu datieren, denn Fra Giovanni Giocondo und Antonello da Capua wurden im
Jahre 1492 in Neapel für Illustrationen zu jenem Codex bezahlt.47 Der Sieneser
Codex entstand vermutlich etwas früher, da dessen Tafel der Mondphasen mit
dem Jahr 1489 beginnt und da nur der Magliabechianus, nicht aber der Sieneser
Codex Bemerkungen über jene antiken Ruinen enthält, die Francesco erst 1491
43 Vgl. R. PAPINI, Francesco di Giorgio architetto, 3Bde., Florenz 1946; J. EISLER, Remarks on
Some Aspects of Francesco di Giorgio's »Trattato«, in: Acta historiae artium academiae
scientiarum hungaricae 17.1972, S.193-231; GERMANN, Geschichte der Architekturtheorie,
S.77-91; L. LOWIC, The Meaning and Significance of the Human Analogy in Francesco di
Giorgio's Trattato, in: Journal of the Society of Architectural Historians 42.1983, S.360-370.
44 FRANCESCO DI GIORGIO MARTINI, Trattati di architettura ingegneria e arte militare a cura
di C. Maltese. Trascrizione di L. Maltese Grassi, 2Bde., Mailand 1967; die Ausgabe
FRANCESCO DI GIORGIO MARTINI, Trattato di architettura. Il Codice Ashburnham 361 della
Biblioteca Laurenziana, hrsg. v. P. Marani, 2Bde., Florenz 1979, lag mir nicht vor.
45 Venedig, Biblioteca Marciana, Ms. It.IV. 3-4 (5541), fol.lv [benutzt in einer photogr.
Reproduktion, Courtauld Institute, Conway Library, London].
46 G. SCAGLIA, The Opera »De architectura« of Francesco di Giorgio Martini for Alfonso Duke
of Calabria, in: Napoli nobilissima 15.1976, S.133-161; R. J. BETTS, On the Chronology of
Francesco di Giorgio's Treatises. New Evidence from an unpublished Manuscript, in: Journal of
the Society of Architectural Historians 36.1977, S.3-14.
47 Vgl. BETTS, Chronology of Giorgio's Treatises.
KAPITEL IV
tatsächlich - wie zu Beginn des Traktats geschildert - beim Essen über Architek-
tur unterhielten, sei dahingestellt. Jedenfalls würde bei einer kurzweiligen
Thematisierung der Baukunst auch der Antropomorphismus zur Sprache
gekommen sein, und Vitruvs Proportionsfigur wäre in diesem Falle das antike
Etikett für eine ansonsten geläufige Vorstellung.
4. Francesco di Giorgio Martini
Francesco di Giorgio Martini (1439-1501) war der Sohn eines Sieneser Geflü-
gelhändlers und ein vielseitig ausgebildeter Ingenieur, Festungsbaumeister,
Bildhauer, Maler und Architekt. Er arbeitete für die Kommune von Siena, für
Alfonso von Kalabrien und besonders für den Hof der Montefeltre in Urbino."
Francescos Trattati di architettura ingegnaria e arte militare liegen in zwei
stark unterschiedlichen Versionen und in mehreren, allerdings nicht auto-
graphischen Handschriften vor.44 Die erste Gruppe von Manuskripten mit den
frühen und theoretisch weniger ausgereiften Versionen der Traktate umfaßt den
Codex Saluzzianus 148 (Turin, Biblioteca Reale), den Codex Ashburnhamianus
361 (Florenz, Biblioteca Laurenziana) sowie - allerdings mit Einschränkungen -
den Codex Spencer 129 (New York, Public Library). Hinzu kommt
möglicherweise eine weitere Abschrift in einer Venezianischen Handschrift.45
Die frühesten dieser Versionen, der Saluzzianus und der Ashburnhamianus, sind
mit ziemlicher Sicherheit vor 1476 verfaßt worden, also noch ehe Francesco
gegen 1477 in die Dienste Federigo da Montefeltres trat. Der Codex Spencer
entstand während Francescos erster Tätigkeit für Alfonso von Kalabrien in den
Jahren 1479 bis 1480.46
Chronologisch an letzter Stelle stehen jene beiden Handschriften, die spätere
und theoretisch ausgereiftere Versionen der Trattati enthalten, die Codices
S.IV.4. (Siena, Biblioteca Communale) und Magliabechianus ILI.141. (Florenz,
Biblioteca Nazionale). Das Florentiner Manuskript ist zwischen 1489 und 1492
zu datieren, denn Fra Giovanni Giocondo und Antonello da Capua wurden im
Jahre 1492 in Neapel für Illustrationen zu jenem Codex bezahlt.47 Der Sieneser
Codex entstand vermutlich etwas früher, da dessen Tafel der Mondphasen mit
dem Jahr 1489 beginnt und da nur der Magliabechianus, nicht aber der Sieneser
Codex Bemerkungen über jene antiken Ruinen enthält, die Francesco erst 1491
43 Vgl. R. PAPINI, Francesco di Giorgio architetto, 3Bde., Florenz 1946; J. EISLER, Remarks on
Some Aspects of Francesco di Giorgio's »Trattato«, in: Acta historiae artium academiae
scientiarum hungaricae 17.1972, S.193-231; GERMANN, Geschichte der Architekturtheorie,
S.77-91; L. LOWIC, The Meaning and Significance of the Human Analogy in Francesco di
Giorgio's Trattato, in: Journal of the Society of Architectural Historians 42.1983, S.360-370.
44 FRANCESCO DI GIORGIO MARTINI, Trattati di architettura ingegneria e arte militare a cura
di C. Maltese. Trascrizione di L. Maltese Grassi, 2Bde., Mailand 1967; die Ausgabe
FRANCESCO DI GIORGIO MARTINI, Trattato di architettura. Il Codice Ashburnham 361 della
Biblioteca Laurenziana, hrsg. v. P. Marani, 2Bde., Florenz 1979, lag mir nicht vor.
45 Venedig, Biblioteca Marciana, Ms. It.IV. 3-4 (5541), fol.lv [benutzt in einer photogr.
Reproduktion, Courtauld Institute, Conway Library, London].
46 G. SCAGLIA, The Opera »De architectura« of Francesco di Giorgio Martini for Alfonso Duke
of Calabria, in: Napoli nobilissima 15.1976, S.133-161; R. J. BETTS, On the Chronology of
Francesco di Giorgio's Treatises. New Evidence from an unpublished Manuscript, in: Journal of
the Society of Architectural Historians 36.1977, S.3-14.
47 Vgl. BETTS, Chronology of Giorgio's Treatises.