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KAPITEL VI

Die Dürer damals vorgelegte Zeichnung - »aus der mas gemacht« - ist nicht
bekannt, und es gibt im Oeuvre Barbaris keine Hinweise auf Propor-
tionszeichnungen jener früher von Leonardo und später durch Dürer
angefertigten Art, in denen anthropometrische Ansätze und Studien nach der
Natur zu einer systematischen Proportionslehre verschmolzen. Barbaris Stiche
zeigen vielmehr oft Kompositionen, deren antikisierende Motive nach Modellen
abgenommene und variierte Akte enthalten.23 Möglicherweise lagen Dürer
lediglich Entwürfe zu diesen oder ähnlichen Kompositionen vor, und Barbari
mag von ihnen behauptet haben, daß er sie »aws der mas gemacht het«. Das
Postulat einer »mas« konnte für Dürer hierbei den Umstand angezeigt haben,
daß eine Abhängigkeit zwischen dem ästhetischen Wert einer Figur und dem ihr
zugrundeliegenden Prinzip besteht. Da Dürer zu jenem Zeitpunkt sich selbst als
in diesen Dingen unerfahren bezeichnete und vor seinem Zusammentreffen mit
Barbari keine Versuche unternommen zu haben scheint, die körperliche
Schönheit aus einem nicht unmittelbar anschaulichen Prinzip zu entwickeln,
konnte die Bemerkung von der »mas« sein Bewußtsein für einen Unterschied
zwischen der formalen und der normativen Richtigkeit geschärft haben. Dabei
spielte es keine entscheidende Rolle, ob Barbari seine Zeichnung tatsächlich
nach einem Maß- oder Proportionsprinzip geschaffen hatte; wichtig war nur,
daß er den normativen Anspruch auf Verwirklichung eines solchen Prinzips
formulierte. Und da Barbaris Oeuvre tatsächlich keine Werke enthält, die nach
einer bestimmten Proportion oder einer bestimmten Konstruktionsmethode
geschaffen wurden, konnte er seinem Nürnberger Kollegen womöglich den
»grunt«, auf den es Dürer ankam, gar nicht mitteilen. Er konnte ihm lediglich
die Notwendigkeit eines Prinzips suggerieren, ein Prinzip, das Dürer »grunt«
nennt und das ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen sollte.
Die Bedeutung von »grunt« und »mas« für den als Goldschmied und damit
handwerklich ausgebildeten Dürer ergibt sich aus dem Sprachgebrauch der
Steinmetzen. Mathes Roriczer etwa schreibt in der Widmung seines zuerst 1486
erschienenen Fialenbüchleins:
So doch ein yede kunst materien form vnd mässe Hab jch mit der hilff gotes
ettwas berurter kunst der geometrey zuerleuteren Und am ersten dasmale den
anefang des auszgeczogens stainwerchs wie vnd jn welcher mass das ausz dem
gründe der geometrey mit austailung des zirckels herfurkomen vnd jn die rechten
mässe gebracht werden solle [...].24
In diesem Zusammenhang und in den folgenden Erläuterungen des Büchleins
hat »grund« zunächst die konkrete Bedeutung des Zeichengrunds, also des
Untergrunds oder des Materials, auf dem die Zeichnungen aufgerissen oder
aufgezeichnet werden.25 Doch gleichzeitig konstituiert die Formulierung »ausz
dem gründe der geometrey« ein »grund« genanntes Prinzip, das auf der
Grundlage der Geometrie wirksam ist.
Daß der »grund« neben einer praktischen Bedeutung im Sinne der konkreten
Zeichengrundlage auch eine abstrakte Konnotation haben konnte, die ein
allgemeines Prinzip des zeichnerischen Entwurfs bezeichnete, belegt das etwas

23 Vgl. L. SERVOLINI, Jacopo de' Barbari, Padua 1944, Taf. Nr. 6-12 und Nr.57, 64, 69, 73-81.

24 Zitiert nach L. R. SHELBY, Gothic Design Techniques. The Fifteenth-Century Design
Booklets of Mathes Roriczer and Hanns Schmuttermayer, Carbondale (111.) 1977, S.82 (d.i.
fol.2v).

25 Vgl. GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd.4.1.6, Sp.715-717 (Wahrheit, Kem, Wesen), Sp.721
(ratio agendi), Sp.681 (in der Mystik: innerstes Wesen, Sinn), und Sp.728-731 (technisch als
Zeichengrund).
 
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