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KAPITEL VI
(1/4 und 1/6). Damit wurden die Vitruvischen Angaben und die geometrischen
Konstruktionen zu voneinander unabhängigen Vorgaben.
Ähnliche Probleme ergaben sich auch bei jenen seit 1500 konstruierten
Figuren, deren Grundhaltung einem durch die italienische Kunst vermittelten
antiken Typus verpflichtet war. Auch hier unterwarf Dürer die gesamte
Komposition einem aus Kreisen, Quadraten, Recht- und Dreiecken bestehenden
Schema; zusätzlich versuchte er in zumindest einem Fall, in diesem Schema
eine Reihe Vitruvischer Proportionen unterzubringen.43 In den übrigen
konstruierten Figuren jedoch sind die Angaben Vitruvs aufgrund der
Ponderation schwer verifizierbar, und man kann auf den zwischen 1500 und
1504 entstandenen Blättern erkennen, daß es Dürer fernlag, den auf der Antike
und der Geometrie basierenden konstruierten Figuren Vitruvische Proportionen
aufzuzwingen. Allerdings ergab sich ein Problem aus der Konstruktion selbst,
denn die menschliche Physis entspricht nur in den seltensten Fällen den
Umrissen geometrischer Figuren. Die Kombination von antiken Vorbildern,
Geometrie und Vitruvischen Proportionen konnte also nicht mehr als ein
Versuch sein, mehrere verfügbare Daten auszuprobieren.
Die Durchsicht der vor allem in London befindlichen frühen Propor-
tionsstudien Dürers läßt ein Schema erkennen, das sich teilweise aus den oben
beschriebenen Versuchen, teilweise aber auch unabhängig von ihnen
entwickelte. Dabei geht Dürer von der Körperachse einer aufrecht stehenden
Figur aus, die er nach verschiedenen Kriterien in eine im Laufe der Jahre immer
größer werdende Zahl von Abschnitten unterteilt (s.o.). Diese Einteilung folgt
zunächst den am Körper vorhandenen herausstechenden Punkten wie Scheitel,
Haaransatz, Nasenspitze, Mund, Kinn, Kehlkopf, Halsgrube, Höhe der
Brustwarzen, Herzgrube, Weichenlinie, Nabel, Scham, Kniegelenk, Knöchel
und Fußsohle. Gleichzeitig bemühte sich Dürer, die so erhaltenen Meßpunkte
mit dem Kanon Vitruvs in Einklang zu bringen44, was die sowohl kurz nach
1500 als auch um 1507/1508 häufiger auftretenden Skizzen zu den Angaben
Vitruvs erklären würde.45 Denn in den Skizzen prüfte Dürer die Plausibilität
dieser Angaben, die er dann sowohl mit den Daten der unmittelbaren
Anschauung als auch mit den Ergebnissen seiner geometrischen Konstruktionen
zu kombinieren versuchte. Ausgehend von dem so konstituierten Grundgerüst
begann er dann, den Körperkontur zu beiden Seiten einer vielfach unterteilten
Vertikalen einzuzeichnen. Daß er bei diesem Verfahren in der Regel nicht von
der Figur selbst, sondern von der zuvor aufgerissenen vertikalen Körperachse
ausging, zeigen ein Blatt des Dresdener Skizzenbuches (um 1507/1508)46 und
zwei unvollendete Blätter der Sammlung in London.47 Dort sind (in den frühen
Zeichnungen als Zirkeleinstiche48, später als mit Feder und Tinte eingetragene)
winzige Punkte als die einzelnen Unterteilungen auf der Vertikalen deutlich
sichtbar. Ausgehend von diesen Punkten zog Dürer dann senkrecht zur
Körperachse verlaufende horizontale Linien, die in seltenen, wahrscheinlich
43 D.70, fol.!62r (STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.5).
44 Vgl. z.B. 5229, fol.92v.
45 Vgl. London 5228, fol.164; 5231, fols.lv-2r und 4r (vgl. RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß,
Bd.2, S.163, 166 und 169).
46 Fo1.119v, D.46 (STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.10).
47 London 5228, fol.l (unpubliziert), und 5229, fol.92v, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2,
S.213.
48 Vgl. etwa London 5228, fol.lSOr, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.40.
KAPITEL VI
(1/4 und 1/6). Damit wurden die Vitruvischen Angaben und die geometrischen
Konstruktionen zu voneinander unabhängigen Vorgaben.
Ähnliche Probleme ergaben sich auch bei jenen seit 1500 konstruierten
Figuren, deren Grundhaltung einem durch die italienische Kunst vermittelten
antiken Typus verpflichtet war. Auch hier unterwarf Dürer die gesamte
Komposition einem aus Kreisen, Quadraten, Recht- und Dreiecken bestehenden
Schema; zusätzlich versuchte er in zumindest einem Fall, in diesem Schema
eine Reihe Vitruvischer Proportionen unterzubringen.43 In den übrigen
konstruierten Figuren jedoch sind die Angaben Vitruvs aufgrund der
Ponderation schwer verifizierbar, und man kann auf den zwischen 1500 und
1504 entstandenen Blättern erkennen, daß es Dürer fernlag, den auf der Antike
und der Geometrie basierenden konstruierten Figuren Vitruvische Proportionen
aufzuzwingen. Allerdings ergab sich ein Problem aus der Konstruktion selbst,
denn die menschliche Physis entspricht nur in den seltensten Fällen den
Umrissen geometrischer Figuren. Die Kombination von antiken Vorbildern,
Geometrie und Vitruvischen Proportionen konnte also nicht mehr als ein
Versuch sein, mehrere verfügbare Daten auszuprobieren.
Die Durchsicht der vor allem in London befindlichen frühen Propor-
tionsstudien Dürers läßt ein Schema erkennen, das sich teilweise aus den oben
beschriebenen Versuchen, teilweise aber auch unabhängig von ihnen
entwickelte. Dabei geht Dürer von der Körperachse einer aufrecht stehenden
Figur aus, die er nach verschiedenen Kriterien in eine im Laufe der Jahre immer
größer werdende Zahl von Abschnitten unterteilt (s.o.). Diese Einteilung folgt
zunächst den am Körper vorhandenen herausstechenden Punkten wie Scheitel,
Haaransatz, Nasenspitze, Mund, Kinn, Kehlkopf, Halsgrube, Höhe der
Brustwarzen, Herzgrube, Weichenlinie, Nabel, Scham, Kniegelenk, Knöchel
und Fußsohle. Gleichzeitig bemühte sich Dürer, die so erhaltenen Meßpunkte
mit dem Kanon Vitruvs in Einklang zu bringen44, was die sowohl kurz nach
1500 als auch um 1507/1508 häufiger auftretenden Skizzen zu den Angaben
Vitruvs erklären würde.45 Denn in den Skizzen prüfte Dürer die Plausibilität
dieser Angaben, die er dann sowohl mit den Daten der unmittelbaren
Anschauung als auch mit den Ergebnissen seiner geometrischen Konstruktionen
zu kombinieren versuchte. Ausgehend von dem so konstituierten Grundgerüst
begann er dann, den Körperkontur zu beiden Seiten einer vielfach unterteilten
Vertikalen einzuzeichnen. Daß er bei diesem Verfahren in der Regel nicht von
der Figur selbst, sondern von der zuvor aufgerissenen vertikalen Körperachse
ausging, zeigen ein Blatt des Dresdener Skizzenbuches (um 1507/1508)46 und
zwei unvollendete Blätter der Sammlung in London.47 Dort sind (in den frühen
Zeichnungen als Zirkeleinstiche48, später als mit Feder und Tinte eingetragene)
winzige Punkte als die einzelnen Unterteilungen auf der Vertikalen deutlich
sichtbar. Ausgehend von diesen Punkten zog Dürer dann senkrecht zur
Körperachse verlaufende horizontale Linien, die in seltenen, wahrscheinlich
43 D.70, fol.!62r (STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.5).
44 Vgl. z.B. 5229, fol.92v.
45 Vgl. London 5228, fol.164; 5231, fols.lv-2r und 4r (vgl. RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß,
Bd.2, S.163, 166 und 169).
46 Fo1.119v, D.46 (STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.10).
47 London 5228, fol.l (unpubliziert), und 5229, fol.92v, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2,
S.213.
48 Vgl. etwa London 5228, fol.lSOr, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.40.