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LUCA PACIOLI

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aber auch mit Personen vertraut war, die, wie die Steinmetzen von San
Sepulchro, über eine nur durchschnittliche Bildung in praktischer Mathematik
und Geometrie verfügten. Die Kluft zwischen einer bedeutungsschwangeren
höheren und einer von ungebildeten Handwerkern naiv angewandten
praktischen Mathematik versucht Pacioli mit seiner Proportionstheorie zu
überbrücken.

2. Paciolis Proportionsbegriff
Paciolis Darstellung eines theoretisch signifikanten Proportionsbegriffs findet
sich überwiegend in dem 1509 gedruckten Traktat De divina proportione,
teilweise aber auch in der Summa. Die weniger kunsttheoretisch motivierte
Erörterung von Proportion und Proportionalität in der Summa basiert zum
größten Teil auf den mathematisch-logischen Proportionstraktaten des
Mittelalters, auf ins Lateinische übersetzten arabischen Überlieferungen und
schließlich auf antiken Werken wie Boethius' De arithmetica und De musica,
Euklids Elementa, Isidors Etymologiae, Platons Timaeus und Aristoteles' De
coelo et mundo. Neben den Schriftstellern des Altertums nennt Pacioli auch
mittelalterliche Autoren wie Albert von Sachsen, Thomas Bradwardine,
Leonardo von Pisa oder Blasius von Parma.19 Eine von ihnen übernommene
Definition ist die des Thomas Bradwardine, der Proportion als etwas
bezeichnet, das in all jenen Dingen stecke, die irgendeine Art von Vergleich
eingehen können.20 Albert von Sachsen, möglicherweise der populärste Autor
dieses Genres, versteht (wie später noch Daniele Barbaro) die Proportion als
den Vergleich zweier Dinge, Größen oder Quantitäten derselben Gattung.21
Definitionen dieser Art fanden ihre prominenteste Formulierung schon bei
Boethius22, und die Entwicklung eines logisch-mathematischen Konzepts der
Proportion geht auf babylonische Zeit zurück, während seine theoretische
Bearbeitung gemeinhin den Pythagoräern zugeschrieben wird.23 Der lateinische
Begriff proportio bezeichnete im logisch-mathematischen Sinne das Verhältnis
oder die ratio zweier Größen zueinander, während mit proportionalitas das
Verhältnis zweier Proportionen definiert wurde. Die Terminologie war jedoch
nicht immer einheitlich.24 Gleichzeitig bildeten Proportion und Proportionalität
seit dem Altertum die Grundlage arithmetischer Kalkulation, denn bis in die
frühe Neuzeit wurden deren Resultate nicht wie heute in Gleichungs-, sondern
in Proportionsform notiert. Diese Proportionsform, deren bekanntestes Beispiel
der sogenannte Dreisatz ist (s.u.), verschwand erst im 19. Jahrhundert aus den

19 PACIOLI, Summa, I, fol.68r.

20 THOMAS OF BRADWARDINE. His »Tractatus de Proportionibus«. Edited and Translated by
H. L. Crosby Jr., Madison (Wise.) 1955, S.66.

21 ALBERT VON SACHSEN, Tractatus proportionum, Padua 1482, c.ir.

22 BOETHIUS, De arithmetica 2.40., Ed. Friedlein S.137; vgl. auch EUKLID, Elementa 5, def.3
und 6.

23 Vgl. J. TROPFKE, Geschichte der Elementar-Mathematik in systematischer Darstellung mit
besonderer Berücksichtigung der Fachwörter, 7Bde., 2.Aufl., Berlin/Leipzig 1921-1924, Bd.3,
S.34

24 Vgl. ebd. und D. E. SMITH, History of Mathematics, 2Bde., Boston 1923-1925, Bd.2,
S.477-494; T. HEATH, The Thirteen Books of Euclid's Elements Translated From the Text of
Heiberg with Introduction and Commentary, 3Bde., 2.Aufl., New York 1956, Bd.2, S.112-129.
 
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