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KAPITEL VII
während des Mittelalters gebrauchten Timaeusübersetzung des Chalcidius37,
und Pacioli war möglicherweise der erste Kunsttheoretiker überhaupt, dem der
vollständige Text Platons in einer lateinischen Übertragung vorlag. Dieser
Umstand scheint in der schon ab 1487 verfaßten Summa noch eine geringere
Rolle gespielt zu haben, denn die dortige Auseinandersetzung mit den
Polyhedra38 geht kaum über ihre frühere Darstellung durch Fibonacci (d.i.
Leonardo von Pisa) in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und Calandri
hinaus.39 Paciolis theoretische Diskussion der Polyhedra in der Divina propor-
tione ist um so bemerkenswerter, als der Übersetzer und Kenner des Timaeus
selbst, Marsilio Ficino, angesichts der in »dunklen Metaphern« (sub obscuris
metaphoris) verpackten Dinge Platons die Lektüre des klarer argumentierenden
Aristoteles empfahl.40 Paciolis gegenüber Ficino erweiterte Auseinandersetzung
mit den Platonischen Körpern basierte möglicherweise auf seiner Vertrautheit
mit der einschlägigen Fachliteratur. So benutzte er neben dem in die Divina
proportione inkorporierten Tractatus de quinque corporibus regularibus Piero
della Francescas auch die Elemente Euklids, deren lateinische Übersetzung er
1509 edierte.41 Erst die in diesen Schriften niedergelegte Darstellung der
Stereometrie ermöglichte eine verständige Interpretation der Polyhedra.42 Damit
entwickelte Pacioli eine theoretische Auseinandersetzung mit den Platonischen
Körpern, die nicht nur gemessen an dem Kenntnisstand der damaligen Künstler
bemerkenswert war.
Nachdem Pacioli die sowohl physische als auch metaphyische Würde der
fünf regelmäßigen Körper dargestellt hat, kommt er auf ihre schwierige
geometrische Konstruktion und schließlich auf ihre irrationale Proportion zu
sprechen. Er argumentiert, daß die irrationale Proportion eine besondere
Beziehung zu Gott und seiner Schöpfung habe, weil das Geheimnis dieser Pro-
portion, das bisher allen Lebenden verborgen geblieben sei, ebensowenig
rational definiert werden könne wie Gott selbst.43 Pacioli bezieht sich mit
diesem Verständnis der irrationalen und damit göttlichen Proportion auf die
dem Dodekaeder zugrundeliegende Konstruktionsmethode, die auf denselben
Streckenverhältnissen beruht wie die des divina proportione genannten
goldenen Schnitts. Diese Proportion besagt, daß im Fall von zwei miteinander
verglichenen Strecken die größere sich zur kleineren zu verhalten habe wie
beide zusammen zur größeren (a:b=[a+b]:a).44 Die divina proportione entsteht
ebenfalls bei der Konstruktion des Pentagons, das wiederum die ebene
geometrische Grundfigur für die Herstellung des Dodekaeders ist.45 Mithilfe des
37 Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus, hrsg. v. J. H. Waszink, 2.Aufl.,
London/Leiden 1975; vgl. R. KLIBANSKY, The Continuity of the Platonic Tradition During the
Middle Ages, London 1939 (Nachdruck München 1981); P. M. SANDERS, Charles de
Bovelles's Treatise on the Regular Polyhedra (Paris 1511), in: Annals of Science 41.1984,
S.513-566, S.515-517.
38 PACIOLI, Summa, I, fol.4, II, fols.68v-70v.
39 Vgl. DAVIS, Piero della Francesca's Treatises, S.30-38.
40 MARSILIO FICINO, Opera Omnia, 2Bde., Basel 1576 (Nachdruck Turin 1962), Bd.l,
fol.l464v; vgl. SANDERS, Bovelle's Treatise, S.516-517.
41 [LUCA PACIOLI (Hrsg, und Komment.)], Euclides megarensis philosophi [...] opera [...],
Brescia 1509.
42 Vgl. OLSCHKI, Geschichte der Literatur, Bd.l, S.222.
43 PACIOLI, Divina proportione, S.34 und 43.
44 Vgl. NAREDI-RAINER, Architektur und Harmonie, S.185-187 und S.193-199 (zit. Eltg.).
45 EUKLID, Elementa 4.11-14.; vgl. HEATH, Euclid's Elements, Bd.2, S.96-107.
KAPITEL VII
während des Mittelalters gebrauchten Timaeusübersetzung des Chalcidius37,
und Pacioli war möglicherweise der erste Kunsttheoretiker überhaupt, dem der
vollständige Text Platons in einer lateinischen Übertragung vorlag. Dieser
Umstand scheint in der schon ab 1487 verfaßten Summa noch eine geringere
Rolle gespielt zu haben, denn die dortige Auseinandersetzung mit den
Polyhedra38 geht kaum über ihre frühere Darstellung durch Fibonacci (d.i.
Leonardo von Pisa) in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und Calandri
hinaus.39 Paciolis theoretische Diskussion der Polyhedra in der Divina propor-
tione ist um so bemerkenswerter, als der Übersetzer und Kenner des Timaeus
selbst, Marsilio Ficino, angesichts der in »dunklen Metaphern« (sub obscuris
metaphoris) verpackten Dinge Platons die Lektüre des klarer argumentierenden
Aristoteles empfahl.40 Paciolis gegenüber Ficino erweiterte Auseinandersetzung
mit den Platonischen Körpern basierte möglicherweise auf seiner Vertrautheit
mit der einschlägigen Fachliteratur. So benutzte er neben dem in die Divina
proportione inkorporierten Tractatus de quinque corporibus regularibus Piero
della Francescas auch die Elemente Euklids, deren lateinische Übersetzung er
1509 edierte.41 Erst die in diesen Schriften niedergelegte Darstellung der
Stereometrie ermöglichte eine verständige Interpretation der Polyhedra.42 Damit
entwickelte Pacioli eine theoretische Auseinandersetzung mit den Platonischen
Körpern, die nicht nur gemessen an dem Kenntnisstand der damaligen Künstler
bemerkenswert war.
Nachdem Pacioli die sowohl physische als auch metaphyische Würde der
fünf regelmäßigen Körper dargestellt hat, kommt er auf ihre schwierige
geometrische Konstruktion und schließlich auf ihre irrationale Proportion zu
sprechen. Er argumentiert, daß die irrationale Proportion eine besondere
Beziehung zu Gott und seiner Schöpfung habe, weil das Geheimnis dieser Pro-
portion, das bisher allen Lebenden verborgen geblieben sei, ebensowenig
rational definiert werden könne wie Gott selbst.43 Pacioli bezieht sich mit
diesem Verständnis der irrationalen und damit göttlichen Proportion auf die
dem Dodekaeder zugrundeliegende Konstruktionsmethode, die auf denselben
Streckenverhältnissen beruht wie die des divina proportione genannten
goldenen Schnitts. Diese Proportion besagt, daß im Fall von zwei miteinander
verglichenen Strecken die größere sich zur kleineren zu verhalten habe wie
beide zusammen zur größeren (a:b=[a+b]:a).44 Die divina proportione entsteht
ebenfalls bei der Konstruktion des Pentagons, das wiederum die ebene
geometrische Grundfigur für die Herstellung des Dodekaeders ist.45 Mithilfe des
37 Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus, hrsg. v. J. H. Waszink, 2.Aufl.,
London/Leiden 1975; vgl. R. KLIBANSKY, The Continuity of the Platonic Tradition During the
Middle Ages, London 1939 (Nachdruck München 1981); P. M. SANDERS, Charles de
Bovelles's Treatise on the Regular Polyhedra (Paris 1511), in: Annals of Science 41.1984,
S.513-566, S.515-517.
38 PACIOLI, Summa, I, fol.4, II, fols.68v-70v.
39 Vgl. DAVIS, Piero della Francesca's Treatises, S.30-38.
40 MARSILIO FICINO, Opera Omnia, 2Bde., Basel 1576 (Nachdruck Turin 1962), Bd.l,
fol.l464v; vgl. SANDERS, Bovelle's Treatise, S.516-517.
41 [LUCA PACIOLI (Hrsg, und Komment.)], Euclides megarensis philosophi [...] opera [...],
Brescia 1509.
42 Vgl. OLSCHKI, Geschichte der Literatur, Bd.l, S.222.
43 PACIOLI, Divina proportione, S.34 und 43.
44 Vgl. NAREDI-RAINER, Architektur und Harmonie, S.185-187 und S.193-199 (zit. Eltg.).
45 EUKLID, Elementa 4.11-14.; vgl. HEATH, Euclid's Elements, Bd.2, S.96-107.