VITRUVSTUDIEN UND VITRUVAUSGABEN
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princeps und ihre Neuauflagen von 1496 und 1497 die Verfügbarkeit des
sowohl technisch als auch stilistisch schwierigen und korrupten Textes, doch
etablierte erst die philologisch wie technisch fundierte Arbeit Giocondos eine
im heutigen Sinne benutzbare Ausgabe. Wie ihr Autor schreibt, zielten seine
Bemühungen auf die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes selbst, was
bereits ahnen läßt, daß dies durch die Inkunabeln nicht in befriedigendem Maße
gewährleistet war. Giocondo kollationierte die auf der Handschriftenfamilie
»H« basierenden Ausgaben des 15. Jahrhunderts mit den bis dahin in Italien
unberücksichtigten Manuskripten der Familie »G« und schuf so eine breitere
Grundlage für seine textkritische Vorgehensweise. Daneben steuerte er 136
Abbildungen bei, die nicht nur die verlorenen Illustrationen Vitruvs ersetzen,
sondern auch zur Erläuterung schwieriger Passagen beitragen sollten.21
Giocondos Vitruvausgabe von 1511 erlebte eine vom Autor selbst
autorisierte 1513 erschienene Neuauflage und zwei weitere Drucke in den
Jahren 1522 und 1523. Alle nachfolgenden Ausgaben, Kommentare und
Übersetzungen des 16. Jahrhunderts basieren auf diesen Editionen. Zwar haben
auch spätere Herausgeber und Kommentatoren wie etwa Philandrier
textkritische Arbeit geleistet, doch erreichten deren Bemühungen nicht das
Ausmaß der von Giocondo betriebenen Studien. Allerdings zeitigte die Arbeit
Giocondos eine Emendation jener problematischen Stelle, an der Vitruv die
Proportionen von Kopf, Gesicht und Hals im Verhältnis zu Brust und Schulter
angibt (vgl. Kap. II). In den drei Inkunabeldrucken von De architectura22 sowie
in den Handschriften23 folgt der Angabe, daß die Dimension des Kopfes vom
Scheitel bis zum Kinn ein Achtel der Gesamtkörperlänge betrage, die
Bemerkung cum cervicibus imis (mit dem unteren Nacken). Dies aber ist
eigentlich der Beginn des folgenden Satzes, der die Entfernung von der oberen
Brust (ab summo pectore) und vom unteren Nacken (cum cervicis imis) mit
einem Sechstel definiert. Giocondo bezog cum cervicibus imis auf das Ende des
vorangehenden Satzes und machte daher aus dem cum ein tantundem
(ebensoviel):
Den Körper des Menschen hat nämlich die Natur so geformt, daß das Gesicht vom
Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem untersten Rande des Haarschopfes
1/10 beträgt, die Handfläche von der Handwurzel bis zur Spitze des Mittelfingers
ebensoviel, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels 1/8,
ebensoviel vom unteren Nacken.24
G. POLENI, Exercitationes Vitruvianae primae, Padua 1739, S.18-27, bes. S.23-24, und T.
TEMANZA, Vite dei piü celebri architetti e scultori veneziani che fiorirono nel secolo
decimosesto, Venedig 1787 (Nachdruck Mailand 1966), S.54-78.
21 Vgl. P. N. PAGLIARA, II Vitruvio edito da Fra Giocondo, in: Palladio e Verona. Catalogo
della mostra a cura di P. Marini, Verona 1980, S.87-88.
22 L. Vitruvii Pollionis ad Cesarem Augustum de architectura libri decem, Rom o.D. [1486],
fol.23v; L. Vitruuii Pollionis de Architectura libri decem, Florenz 1496, fol.Ciiiv; L. Vitruvii
Pollionis de Architectura libri decem, Venedig 1497, fol.Ciiiv.
23 Vgl. London, British Library, Ms. Harley 2767, fols.37v-38r; Harley 2508, fo!.119v; Arundel
122, fols.34v-35r; Oxford, Bodleian Library, Ms. Auct. F.5.7., fol.24v-25r (nach freundlicher
Mitteilung von Kristian Jensen, Bodleian Library), Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Ms.
Gudianus latinus 69, fol.28r; Gudianus latinus 132, fol.l0r.
24 Corpus [e]n[im] ho[min]is ita natura co[m]posuit, vti os capitis a mento ad fronte[m]
summa[m] & radices imas capilli esset decimae partis, Ite[m] manus palma ab articulo ad
extremu[m] mediu[m] digitu[m] ta[n]tu[n]dem, Caput a mento ad su[m]mu[m] vertice[m],
octauae, Ta[n]tundem ab ceruicib[us] imis [...]. M. Vitruvius per lucundum solito castigatior
factus, cum figuris et tabula, ut iam legi et intelligi possit, Venedig 1511, fol.22.
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princeps und ihre Neuauflagen von 1496 und 1497 die Verfügbarkeit des
sowohl technisch als auch stilistisch schwierigen und korrupten Textes, doch
etablierte erst die philologisch wie technisch fundierte Arbeit Giocondos eine
im heutigen Sinne benutzbare Ausgabe. Wie ihr Autor schreibt, zielten seine
Bemühungen auf die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes selbst, was
bereits ahnen läßt, daß dies durch die Inkunabeln nicht in befriedigendem Maße
gewährleistet war. Giocondo kollationierte die auf der Handschriftenfamilie
»H« basierenden Ausgaben des 15. Jahrhunderts mit den bis dahin in Italien
unberücksichtigten Manuskripten der Familie »G« und schuf so eine breitere
Grundlage für seine textkritische Vorgehensweise. Daneben steuerte er 136
Abbildungen bei, die nicht nur die verlorenen Illustrationen Vitruvs ersetzen,
sondern auch zur Erläuterung schwieriger Passagen beitragen sollten.21
Giocondos Vitruvausgabe von 1511 erlebte eine vom Autor selbst
autorisierte 1513 erschienene Neuauflage und zwei weitere Drucke in den
Jahren 1522 und 1523. Alle nachfolgenden Ausgaben, Kommentare und
Übersetzungen des 16. Jahrhunderts basieren auf diesen Editionen. Zwar haben
auch spätere Herausgeber und Kommentatoren wie etwa Philandrier
textkritische Arbeit geleistet, doch erreichten deren Bemühungen nicht das
Ausmaß der von Giocondo betriebenen Studien. Allerdings zeitigte die Arbeit
Giocondos eine Emendation jener problematischen Stelle, an der Vitruv die
Proportionen von Kopf, Gesicht und Hals im Verhältnis zu Brust und Schulter
angibt (vgl. Kap. II). In den drei Inkunabeldrucken von De architectura22 sowie
in den Handschriften23 folgt der Angabe, daß die Dimension des Kopfes vom
Scheitel bis zum Kinn ein Achtel der Gesamtkörperlänge betrage, die
Bemerkung cum cervicibus imis (mit dem unteren Nacken). Dies aber ist
eigentlich der Beginn des folgenden Satzes, der die Entfernung von der oberen
Brust (ab summo pectore) und vom unteren Nacken (cum cervicis imis) mit
einem Sechstel definiert. Giocondo bezog cum cervicibus imis auf das Ende des
vorangehenden Satzes und machte daher aus dem cum ein tantundem
(ebensoviel):
Den Körper des Menschen hat nämlich die Natur so geformt, daß das Gesicht vom
Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem untersten Rande des Haarschopfes
1/10 beträgt, die Handfläche von der Handwurzel bis zur Spitze des Mittelfingers
ebensoviel, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels 1/8,
ebensoviel vom unteren Nacken.24
G. POLENI, Exercitationes Vitruvianae primae, Padua 1739, S.18-27, bes. S.23-24, und T.
TEMANZA, Vite dei piü celebri architetti e scultori veneziani che fiorirono nel secolo
decimosesto, Venedig 1787 (Nachdruck Mailand 1966), S.54-78.
21 Vgl. P. N. PAGLIARA, II Vitruvio edito da Fra Giocondo, in: Palladio e Verona. Catalogo
della mostra a cura di P. Marini, Verona 1980, S.87-88.
22 L. Vitruvii Pollionis ad Cesarem Augustum de architectura libri decem, Rom o.D. [1486],
fol.23v; L. Vitruuii Pollionis de Architectura libri decem, Florenz 1496, fol.Ciiiv; L. Vitruvii
Pollionis de Architectura libri decem, Venedig 1497, fol.Ciiiv.
23 Vgl. London, British Library, Ms. Harley 2767, fols.37v-38r; Harley 2508, fo!.119v; Arundel
122, fols.34v-35r; Oxford, Bodleian Library, Ms. Auct. F.5.7., fol.24v-25r (nach freundlicher
Mitteilung von Kristian Jensen, Bodleian Library), Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Ms.
Gudianus latinus 69, fol.28r; Gudianus latinus 132, fol.l0r.
24 Corpus [e]n[im] ho[min]is ita natura co[m]posuit, vti os capitis a mento ad fronte[m]
summa[m] & radices imas capilli esset decimae partis, Ite[m] manus palma ab articulo ad
extremu[m] mediu[m] digitu[m] ta[n]tu[n]dem, Caput a mento ad su[m]mu[m] vertice[m],
octauae, Ta[n]tundem ab ceruicib[us] imis [...]. M. Vitruvius per lucundum solito castigatior
factus, cum figuris et tabula, ut iam legi et intelligi possit, Venedig 1511, fol.22.