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KAPITEL IX
ausgedrückten und in der kosmographischen Landvermessung gebrauchten an-
thropomorphen Standardmaßen vermessen (symmetriata) werden.
Neben der ohne weiteres einsehbaren Bedeutung von Standardmaßen war das
enge Verhältnis zwischen geometrischen Konstruktionsmethoden im Plan und
auf der Baustelle ein besonderes Charakteristikum mittelalterlicher Archi-
tekturpraxis. In Anbetracht einer einfachen mathematischen Ausbildung der
ausführenden Baumeister49 und in Ermangelung präziser optischer Vermes-
sungsinstrumente wurden für das Aufmaß des Bauwerks geometrisch kontrol-
lierbare Konstruktionsschemata verwendet. Hierzu gehörte die sogenannte
Quadratur, die möglicherweise nicht nur in der Kleinform Verwendung fand.
Wenn man etwa das Grundmaß der Chorlichtweite als Seitenlänge eines
gegebenen Quadrates auffaßte, konnten alle folgenden Dimensionen aus von
hier entwickelten gleichen Quadraten gewonnen oder aus deren Diagonalen
proportioniert werden.50 Die durch archäologische Befunde gesicherten Auf-
schnürungen der Gebäude in griechischer und römischer Zeit geben genügend
Anhaltspunkte dafür, die Ähnlichkeit geometrisch kontrollierter Entwurfs- und
Ausführungstechniken für Antike und Mittelalter anzunehmen. So basiert die
von Vitruv dem Pythagoras zugeschriebene Methode der Quadratverdopplung
(9.prooem.4-5.) sowie die Proportionierung des Atriums (6.3.3.) auf derselben
Proportionalität der Quadratdiagonale wie das von Cesariano erläuterte Prinzip
der sogenannten mittelalterlichen Quadratur. Darüber hinaus sind die sowohl in
der Antike als auch in Mittelalter und Neuzeit verwendeten Instrumente
dieselben, nämlich Zirkel, Richtscheit, Richtschnur, Setzwaage, Schnurzirkel,
Winkelmaß und Lot. Deren praktische Bedeutung und diejenige der Geometrie
sieht Cesariano in Vitruvs Proportionsfigur veranschaulicht. Daneben erkennt
er, wie vor ihm schon Leonardo, die dieser Figur zugrundeliegende anthropo-
morphe und für die Baupraxis unerläßliche Metrologie.
Wie schon im Falle von euthygrammum ist Cesarianos Verständnis der
Vitruvischen Proportionsfiguren von praktischen Erfahrungen geprägt.
Aufgrund seiner speziellen agrimensorischen Fähigkeiten diskutiert er die
Bedeutung der bei Vitruv formulierten Metrologie in einem über die Belange
der Architektur hinausgehenden Umfang. Die daraus entwickelte baupraktische
Relevanz der Metrologie und ihrer anthropomorphen Maße verdeutlicht deren
wichtige Verbindung zur in Entwurf und Ausführung angewandten
Baugeometrie und ihren architektonischen Werkzeugen. Die Kompetenz für
diese Interpretation Vitruvs ergibt sich sowohl aus Cesarianos intellektuellem
Ehrgeiz als auch aus seiner handwerklichen Schulung - beides Eigenschaften,
die er mit Vitruv teilt.
49 Vgl. BOOZ, Baumeister der Gotik, S.9-15; L. R. SHELBY, The Geometrical Knowledge of the
Medieval Master Masons, in: Speculum 47.1972, S.395-421.
50 Vgl. BOOZ, Baumeister der Gotik; M. AUBERT, La Construction au moyen äge, in: Bulletin
monumental 119.1961, S.7-42; F. BUCHER, Medieval Architectural Design Methods 800-1560,
in: Gesta 11.1973, S.37-51; L. R. SHELBY, Late Gothic Structural Design in the Instructions of
Lorenz Lechler, in: architectura 9.1979, S.113-131; S. K. VICTOR, Practical Geometry in the
High Middle Ages, Philadelphia 1979, S.65-73; SEELIGER-ZEISS, Steinmetzbuch des Lorenz
Lechler, S.147-150 (zit. in Kap. III.2; dort auch weitere Lit.).
KAPITEL IX
ausgedrückten und in der kosmographischen Landvermessung gebrauchten an-
thropomorphen Standardmaßen vermessen (symmetriata) werden.
Neben der ohne weiteres einsehbaren Bedeutung von Standardmaßen war das
enge Verhältnis zwischen geometrischen Konstruktionsmethoden im Plan und
auf der Baustelle ein besonderes Charakteristikum mittelalterlicher Archi-
tekturpraxis. In Anbetracht einer einfachen mathematischen Ausbildung der
ausführenden Baumeister49 und in Ermangelung präziser optischer Vermes-
sungsinstrumente wurden für das Aufmaß des Bauwerks geometrisch kontrol-
lierbare Konstruktionsschemata verwendet. Hierzu gehörte die sogenannte
Quadratur, die möglicherweise nicht nur in der Kleinform Verwendung fand.
Wenn man etwa das Grundmaß der Chorlichtweite als Seitenlänge eines
gegebenen Quadrates auffaßte, konnten alle folgenden Dimensionen aus von
hier entwickelten gleichen Quadraten gewonnen oder aus deren Diagonalen
proportioniert werden.50 Die durch archäologische Befunde gesicherten Auf-
schnürungen der Gebäude in griechischer und römischer Zeit geben genügend
Anhaltspunkte dafür, die Ähnlichkeit geometrisch kontrollierter Entwurfs- und
Ausführungstechniken für Antike und Mittelalter anzunehmen. So basiert die
von Vitruv dem Pythagoras zugeschriebene Methode der Quadratverdopplung
(9.prooem.4-5.) sowie die Proportionierung des Atriums (6.3.3.) auf derselben
Proportionalität der Quadratdiagonale wie das von Cesariano erläuterte Prinzip
der sogenannten mittelalterlichen Quadratur. Darüber hinaus sind die sowohl in
der Antike als auch in Mittelalter und Neuzeit verwendeten Instrumente
dieselben, nämlich Zirkel, Richtscheit, Richtschnur, Setzwaage, Schnurzirkel,
Winkelmaß und Lot. Deren praktische Bedeutung und diejenige der Geometrie
sieht Cesariano in Vitruvs Proportionsfigur veranschaulicht. Daneben erkennt
er, wie vor ihm schon Leonardo, die dieser Figur zugrundeliegende anthropo-
morphe und für die Baupraxis unerläßliche Metrologie.
Wie schon im Falle von euthygrammum ist Cesarianos Verständnis der
Vitruvischen Proportionsfiguren von praktischen Erfahrungen geprägt.
Aufgrund seiner speziellen agrimensorischen Fähigkeiten diskutiert er die
Bedeutung der bei Vitruv formulierten Metrologie in einem über die Belange
der Architektur hinausgehenden Umfang. Die daraus entwickelte baupraktische
Relevanz der Metrologie und ihrer anthropomorphen Maße verdeutlicht deren
wichtige Verbindung zur in Entwurf und Ausführung angewandten
Baugeometrie und ihren architektonischen Werkzeugen. Die Kompetenz für
diese Interpretation Vitruvs ergibt sich sowohl aus Cesarianos intellektuellem
Ehrgeiz als auch aus seiner handwerklichen Schulung - beides Eigenschaften,
die er mit Vitruv teilt.
49 Vgl. BOOZ, Baumeister der Gotik, S.9-15; L. R. SHELBY, The Geometrical Knowledge of the
Medieval Master Masons, in: Speculum 47.1972, S.395-421.
50 Vgl. BOOZ, Baumeister der Gotik; M. AUBERT, La Construction au moyen äge, in: Bulletin
monumental 119.1961, S.7-42; F. BUCHER, Medieval Architectural Design Methods 800-1560,
in: Gesta 11.1973, S.37-51; L. R. SHELBY, Late Gothic Structural Design in the Instructions of
Lorenz Lechler, in: architectura 9.1979, S.113-131; S. K. VICTOR, Practical Geometry in the
High Middle Ages, Philadelphia 1979, S.65-73; SEELIGER-ZEISS, Steinmetzbuch des Lorenz
Lechler, S.147-150 (zit. in Kap. III.2; dort auch weitere Lit.).