GUILLAUME PHILANDRIER
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Strauchwerk [damit] verflochten hatten, mit Lehm Mauerwände dazwischen
einzufügen. Das sind die ersten Anfänge der Baukunst gewesen.11
Diese Textstelle, mit der die Widmung des Werkes an Franz I. beginnt, ist eine
ciceronisch phrasierte Version der von Vitruv selbst (2.1.1-3.) beschriebenen
Entstehung der Architektur. Die von Philandrier in seine eigene Formulierung
gestreuten Satzfragmente aus Ciceros De oratore und De inventione sind zwar
aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang gerissen, doch sie waren
prominent genug, um von jedem gelehrten Leser des 16. Jahrhunderts
identifiziert werden zu können.12 In den Annotationes selbst versucht ihr Autor,
das ciceronisch und damit humanistisch ambitionierte Anspruchsniveau zu
halten. Im Sinne dieser humanistischen Ambitionen verweist er auf seine in
Italien erworbenen archäologischen Kenntnisse13, und er macht mehrfach klar,
neben gedruckten Vitruvausgaben auch Handschriften zur Textverbesserung
herangezogen zu haben.14
3. Philandrier und Vitruvs Proportionsfigur
Im Gegensatz zu Cesarianos baupraktisch bestimmten Interpretationen
beschränkt Philandrier sich in der Kommentierung der Proportionsfigur Vitruvs
auf seine Punkt für Punkt vorgehende antiquarische und größtenteils philolo-
gische Methodik. Daher sieht er nicht, wie vor ihm Cesariano, die einzelnen
Aspekte der Proportionsfigur im Zusammenhang einer vor allem meßtechnisch
bestimmten Baupraxis; vielmehr kommentiert er die verschiedenen
Gesichtspunkte in der Reihenfolge ihres Auftretens und erhält damit vereinzelte
Angaben, deren Heterogenität durch ein allgemeines Interesse an der Antike
sowie durch die philologische Methodik zusammengehalten wird. Die daraus
resultierende Vereinzelung zeigt sich besonders deutlich, wenn er, zunächst
Vitruv folgend, die symmetria als eine Maßbestimmung hinsichtlich von Länge,
Breite und Höhe eines Gebäudes erklärt, dann aber in seiner ausführlichen
Erläuterung der anthropomorphen Maßeinheiten selbst nicht auf deren
Bedeutung für diese Symmetrie eingeht. Stattdessen diskutiert er ausführlich
diejenigen griechischen und lateinischen Autoren, die zu einem Verständnis der
antiken Maßeinheiten und ihrer korrekten Bezeichnung beitragen können. Diese
Art metrologischer Diskussion ist nicht nur typisch für Philandriers
Arbeitsweise, einzelne Probleme des Textes individuell zu behandeln, sondern
auch aufschlußreich hinsichtlich seiner Interessen. Denn er analysiert die
anthropomorphen Maße nicht, wie man es von einem schwerpunktmäßig an Ar-
chitektur interessierten Schriftsteller erwarten würde, im Kontext eines
anthropomorphen Verständnisses von Architektur; vielmehr gilt sein Interesse
11 Fuisse tempus, cum in montibus ac syluis dispersi dissipatiq[ue] homines bestiarum more
vagarentur, & sibi victu ferino vitam propagarent, Rex inuictiss[ime], legimus: nondum ij
prudentium consilijs, aut disertorum oratione deliniti, a fera agrestiq[ue] vita ad humanum hunc
ciuilemq[ue] cultum deducti, se oppidis moenibusq[ue] sepserant. Et principio quidem, cum id
tantum agerent, vt se suaq[ue] ab aduersis tempestatibus tuerentur, vt contra solis ardores tuta
diffugia haberent, coeperunt aliqui e frondibus tecta facere, speluncas alij fodere: qui ingenio
praestabant, furcis erectis, & intertextis virgultis luto parietes inducere. Ea fuerunt aedificatoriae
rei incunabula. Philandrier, Vitruvii de architectura, 1586, c.a2r.
12 CICERO, De oratore 1.8.33., 1.9.36; De inventione 1.2.
13 Philandrier, Vitruvii de architectura, 1586, z.B. c.3ar, S.7, 15, 83, 84, 170.
14 Ebd., z. B. S.5, 8, 9, 43, 116.
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Strauchwerk [damit] verflochten hatten, mit Lehm Mauerwände dazwischen
einzufügen. Das sind die ersten Anfänge der Baukunst gewesen.11
Diese Textstelle, mit der die Widmung des Werkes an Franz I. beginnt, ist eine
ciceronisch phrasierte Version der von Vitruv selbst (2.1.1-3.) beschriebenen
Entstehung der Architektur. Die von Philandrier in seine eigene Formulierung
gestreuten Satzfragmente aus Ciceros De oratore und De inventione sind zwar
aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang gerissen, doch sie waren
prominent genug, um von jedem gelehrten Leser des 16. Jahrhunderts
identifiziert werden zu können.12 In den Annotationes selbst versucht ihr Autor,
das ciceronisch und damit humanistisch ambitionierte Anspruchsniveau zu
halten. Im Sinne dieser humanistischen Ambitionen verweist er auf seine in
Italien erworbenen archäologischen Kenntnisse13, und er macht mehrfach klar,
neben gedruckten Vitruvausgaben auch Handschriften zur Textverbesserung
herangezogen zu haben.14
3. Philandrier und Vitruvs Proportionsfigur
Im Gegensatz zu Cesarianos baupraktisch bestimmten Interpretationen
beschränkt Philandrier sich in der Kommentierung der Proportionsfigur Vitruvs
auf seine Punkt für Punkt vorgehende antiquarische und größtenteils philolo-
gische Methodik. Daher sieht er nicht, wie vor ihm Cesariano, die einzelnen
Aspekte der Proportionsfigur im Zusammenhang einer vor allem meßtechnisch
bestimmten Baupraxis; vielmehr kommentiert er die verschiedenen
Gesichtspunkte in der Reihenfolge ihres Auftretens und erhält damit vereinzelte
Angaben, deren Heterogenität durch ein allgemeines Interesse an der Antike
sowie durch die philologische Methodik zusammengehalten wird. Die daraus
resultierende Vereinzelung zeigt sich besonders deutlich, wenn er, zunächst
Vitruv folgend, die symmetria als eine Maßbestimmung hinsichtlich von Länge,
Breite und Höhe eines Gebäudes erklärt, dann aber in seiner ausführlichen
Erläuterung der anthropomorphen Maßeinheiten selbst nicht auf deren
Bedeutung für diese Symmetrie eingeht. Stattdessen diskutiert er ausführlich
diejenigen griechischen und lateinischen Autoren, die zu einem Verständnis der
antiken Maßeinheiten und ihrer korrekten Bezeichnung beitragen können. Diese
Art metrologischer Diskussion ist nicht nur typisch für Philandriers
Arbeitsweise, einzelne Probleme des Textes individuell zu behandeln, sondern
auch aufschlußreich hinsichtlich seiner Interessen. Denn er analysiert die
anthropomorphen Maße nicht, wie man es von einem schwerpunktmäßig an Ar-
chitektur interessierten Schriftsteller erwarten würde, im Kontext eines
anthropomorphen Verständnisses von Architektur; vielmehr gilt sein Interesse
11 Fuisse tempus, cum in montibus ac syluis dispersi dissipatiq[ue] homines bestiarum more
vagarentur, & sibi victu ferino vitam propagarent, Rex inuictiss[ime], legimus: nondum ij
prudentium consilijs, aut disertorum oratione deliniti, a fera agrestiq[ue] vita ad humanum hunc
ciuilemq[ue] cultum deducti, se oppidis moenibusq[ue] sepserant. Et principio quidem, cum id
tantum agerent, vt se suaq[ue] ab aduersis tempestatibus tuerentur, vt contra solis ardores tuta
diffugia haberent, coeperunt aliqui e frondibus tecta facere, speluncas alij fodere: qui ingenio
praestabant, furcis erectis, & intertextis virgultis luto parietes inducere. Ea fuerunt aedificatoriae
rei incunabula. Philandrier, Vitruvii de architectura, 1586, c.a2r.
12 CICERO, De oratore 1.8.33., 1.9.36; De inventione 1.2.
13 Philandrier, Vitruvii de architectura, 1586, z.B. c.3ar, S.7, 15, 83, 84, 170.
14 Ebd., z. B. S.5, 8, 9, 43, 116.