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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0158
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KAPITEL X

der antiquarischen Rekonstruktion der antiken Maßverhältnisse und der
Diskussion ihrer korrekten Bezeichnung. Er konzentriert sich also nicht auf die
Verwendung von Maßverhältnissen, sondern auf die antiquarisch motivierte
Erklärung ihrer historischen Herkunft aus der Antike.
Philandriers Auseinandersetzung mit den von Vitruv angegebenen
menschlichen Proportionen selbst übergeht deren metrologischen Ursprung und
ist von der Unstimmigkeit in Vitruvs Kanon geprägt (vgl. Kap. II.2). Als
Alternative zu den unstimmig erscheinenden Proportionen schlägt Philandrier
die Angaben Pomponius Gauricus' vor, zitiert dann aber einen von jenen leicht
verschiedenen Kanon:
Es fehlen auch nicht solche, die (wofür sie Varro als Gewährsmann loben) den
Körper des Menschen in 9 1/3 Teile teilen und einen Teil vom Kinn bis zu den
Haarwurzeln rechnen, zwei von der oberen Brust bis zum Nabel, von hier bis zu
den Geschlechtsorganen einen, von hier entlang dem Oberschenkel bis zum Knie
zwei und ab dem Knie entlang dem Schienbein bis zu den Knöcheln zwei. Ein
Drittel wiederum rechnen sie vom Haaransatz bis zum Scheitel, ebensoviel vom
Kinn bis auf die obere Brust. Der Kniescheibe (epigonatidi) oder Kniekappe
(mylae), die das Gelenk zwischen Schienbein und Oberschenkel bedeckt,
schreiben sie ebensoviel zu, und ebensoviel auch vom Knöchel bis zur Fußsohle,
so daß es vom Kinn bis zum Scheitel 1/7 der Gesamtkörperlänge ist, von der Höhe
der Brust bis zu den Haarwurzeln ebensoviel und bis zum Scheitel ein wenig mehr
als 1/6.15
Die Zuschreibung dieses Kanons an Varro ist aufgrund der von diesem Autor
erhaltenen Schriften nicht haltbar.16 Jene von Philandrier ausführlich zitierten
und von Gauricus nur geringfügig abweichenden Proportionen sind den zuerst
1526 auf spanisch17 und 1539 auf französisch18 erschienenen Medidas del
romano Diego de Sagredos entnommen (vgl. Kap. VIIL3). Sie stammen
wahrscheinlich aus in Künstlerwerkstätten zirkulierenden Anweisungen, die
sich mit kleinen Varianten auch in den Traktaten Cennino Cenninis19 und
Lorenzo Ghibertis20 finden. Außerdem kann man annehmen, daß dieser in den
Künstlerwerkstätten des Mittelalters gebrauchte »Pseudo-Varro-Kanon«21 einen
byzantinischen Ursprung hat, der in einer griechischen Handschrift des 18. Jahr-
hunderts, dem sogenannten Malerbuch vom Berg Athos nachweisbar ist.22

15 Non defuerunt qui in nouem partes & vnius tertiam hominis corpus partientes (cuius rei laudant
autorem Varronem) constituant partem vnam a mento ad radices imas capillorum, duas a summo
pectore ad vmbilicum, ab hoc ad genitalia vnam, ab istis per femora ad genu duas, infra genu per
tibias ad malleolos duas. Rursus vnius tertiam a radicibus capillorum ad verticem statuunt,
tantundem a mento ad summurn pectus, epigonatidi siue mylae, quae iuncturam femoris & tibiae
operit, tantundem tribuunt, a malleolis ad plantam pedis tantundem, vt sit a mento ad verticem
septima totius corporis, a summo pectore ad imas radices capillorum tantundem, ad summurn
verticem paulum supra sextam. Ebd., S.83.

16 Vgl. KLEIN, Le Canon pseudo-varronien, S.177-185 (zit. Kap. VIII.3).

17 DIEGO DE SAGREDO, Medidas del romano, Toledo 1526 (Nachdruck, Valencia 1976),
c.Avr-v.

18 DIEGO DE SAGREDO, Raison d'architecture, Paris 1539, c.6r-7v.

19 CENNINO CENNINI, II libro dell' arte, hrsg. v. F. Brunello und L. Magagnato, Vicenza 1971,
S.81-83 (Kap.70).

20 GHIBERTI, Commentarii, Bd.l, S.229 (d.i. fol.63r), Bd.2, S.34-35 (vgl. Kap. IV.2.).

21 Vgl. PANOFSKY, Die Entwicklung der Proportionslehre, S.201, Anm.2 (zit. Kap. 1.4).

22 DENYS DE FOURNA, Manuel d'iconographie chrdtienne, hrsg. v. A. Papadopoulo-Körameus,
Leningrad 1909, S.34-35; vgl. DIONISIO DA FURNA, Ermeneutica della pittura, hrsg. v. G.
Donato Grasso, Florenz 1971, S.XLIX-L, 44-45; P. HETHERINGTON (Hrsg, und übers.) The
Painter's Manual of Dionysius of Fourna, London 1974, S.2-13.
 
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