Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
156

KAPITEL XI

angebotenen Übersetzungen, die immer auch als Interpretationen zu verstehen
sind. Am Schluß des Kapitels steht der Versuch, Barbaros spezifisches Ver-
ständnis der Vitruvischen Proportionsfigur aus seiner Stellung als aristo-
kratischer Förderer der Künste zu erklären.

1. Barbaros Kunsttheorie7
Barbaros Kunsttheorie basiert auf der Annahme, daß die verführerischen und
nur oberflächlich schön wirkenden Dinge zwar verlockend seien, doch letztlich
dem wahren Schönen, das nur mithilfe des Intellekts erkannt werde, nicht
gleichkämen.8 Aus der Unzuverlässigkeit der Sinne, die durch minimale äußere
Ursachen verfälscht werden könnten9, folgert Barbaro die Notwendigkeit von
mathematischen und musikalischen Prinzipien in der Kunst. Gleichzeitig jedoch
wird die Relevanz der sinnlichen Wahrnehmung nicht bestritten, denn, so
Barbaros Argumentation, die Kunst basiere auf der Erfahrung (isperienza), die
gleich der Summe der erinnerten und kategorisierten Sinneswahrnehmung sei.10
Die Erfahrung gleiche einer Fährte, die zwar zur Kunst führe, aber nicht das aus
Prinzipien bestehende Wesen der Kunst ausmache, sondern nur den Weg zu ihr
weise. Schließlich basiere auch die Erfahrung selbst auf Prinzipien, denn die
sinnliche Wahrnehmung unterläge der Zusammensetzung der in ihr realisierten
Prinzipien.11 Da die Auseinandersetzung mit der Kunst letztlich auf eine
Erörterung ihrer Prinzipien hinausläuft, betrachtet Barbaro die theoretische
Diskussion von Kunst als Teil einer Tätigkeit, deren Intellektualität ihre
logische Behandlung erfordert. Die daraus resultierende Folgerichtigkeit der
Vorgehensweise basiert auf der Voraussetzung, daß nur die Kenntnis des
behandelten Gegenstandes seine angemessene Erörterung gewährleisten kann,
denn »in jeder Wissenschaft umfaßt die Definition des Subjekts, von dem man
handelt, [...] virtuell die Auflösung der Zweifel, das Auffinden der Geheimnisse
und die Wahrheit der Dinge, die in jener Wissenschaft enthalten sind.«12
Da die Ausübung von Kunst eine geistige Tätigkeit und die Architektur als
Vorsteherin aller Künste (omnium artium princeps)13 eine auf Erkenntnis
gerichtete Anlage (habitus, habito) ist, erläutert Barbaro zunächst die
verschiedenen Anlagen des Intellekts (intelletto). Deren gebe es drei, und im
Gegensatz zu den beiden weniger brauchbaren Prinzipien, Meinung und
Ignoranz, eigne dem Intellekt das Streben nach dem Wahren (vero). Die
Philosophen, so fährt er fort, unterschieden das notwendig Wahre (vero
necessario) vom hinzutretend Wahren (vero contingente), und das notwendig

7 Vgl. hierzu allgemein, mit teilweise abweichenden Ergebnissen: E. FORSSMANN, Palladio e
D. Barbaro, in: Bolletino del centro intemazionale di studi di architettura Andrea Palladio 8.1966,
2, S.68-81; G. BARBIERI, Andrea Palladio e la cultura veneta del Rinascimento, Rom 1983,
S.45-58, und dens., Il decalogo della virtü dell'architetto da Alberti a Palladio, in: Arte Lombarda
64.1983, S.53-59.

8 BARBARO, I dieci libri, 1567, c.a2.

9 Ebd., S.19.

10 Ebd., S.4.

11 Ebd., S.71.

12 [...] in chiascuna scienza la diffinitione del soggetto, del qual si tratta, [...] contiene
uirtualmente le solutioni de i dubij, le inuentioni de i secreti, & la ueritä delle cose in quella
scienza contenute. Ebd., S.8.

13 BARBARO, Vitrvvii de architectura, S.l.
 
Annotationen