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KAPITEL XI

führen. Nach der grundsätzlichen Erläuterung der musiktheoretischen Propor-
tionslehre erklärt Barbaro das der Proportion nachfolgende Prinzip, die Propor-
tionalität, die der Vergleich zweier Proportionen ist und mit Vitruvs eurythmia
identifiziert wird. Die mit schöne Zahl (bell numero) übersetzte Eurythmie dient
ihm als theoretischer Leitbegriff für das ästhetische Prinzip der Propor-
tionalität.49 Dieser Vergleich zweier Proportionen führt wiederum zu
pythagoräischen Intervallen wie dupla (2:1) und sesquialtera (3:2); deren
Unterteilung ergibt schließlich eine aus drei Klängen bestehende Propor-
tionalität, wenn etwa die Zerlegung der Oktave (proportionalitä dupla, 2:1 oder
4:2) mittels der Quarte und Quinte als 4:3:2 ausgedrückt wird.50
Die Attraktivität eines musiktheoretisch hergeleiteten Proportionssystems
bestand zum einen in dem durch Pythagoras inaugurierten51 und durch Autoren
wie Platon52, Boethius53 oder Isidor54 überlieferten Anspruch, daß die Welt oder
Weltseele aus Zahlen und aufgrund musikalischer Harmonien geschaffen sei;
zum anderen mußten Architekturtheoretiker wie Alberti oder Barbaro die
Möglichkeit interessieren, Längendimensionen mithilfe musikalischer
Konsonanzen auszudrücken, um damit den ästhetischen Wert der Musik auf die
Architektur übertragen zu können. Diese Möglichkeiten hatten sich im Laufe
des 15. und 16. Jahrhunderts durch die wachsende Zahl musiktheoretischer
Diskussionen und Publikationen erweitert. Barbaro, der sich allem Anschein
nach auch auf die zeitgenössische Musiktheorie stützte55, benutzte das System
musikalisch bestimmter Proportionen zu dem Effekt, daß die architektonischen
Proportionen im Rahmen des kunsttheoretischen Diskurses sprachlich erfaßt
und damit literarisch kommunizierbar gemacht werden konnten. Der Sinn
dieses Diskurses ist der, jene aus der musikalischen Proportion entwickelte und
auf die Architektur angewandte Bedeutung zu benennen, denn die musikalische
Proportionierung von Gebäuden ist als solche nicht sichtbar. Erst ihre
Mitteilung durch jenen Diskurs läßt den präsumptiven Benutzer und Betrachter
das künstlerische Prinzip erkennen, das der Architektur in Form der Proportion
zugrundeliegt. Neben ihrer allgemeinen Würdigung mußte es Barbaro also
darauf ankommen, das ästhetische Prinzip der Proportion in einer Weise zu
definieren, die garantierte, daß die auf literarischer Mitteilbarkeit beruhende
Brauchbarkeit der Proportionen durch die Verfügbarkeit einer möglichst großen
Anzahl möglichst genau definierter Proportionen gewährleistet wurde. Als
Garant dieser Mitteilbarkeit wählte Barbaro die Musiktheorie, deren bereits
bestehende Konventionen und Definitionen sich für seine Absichten anboten.
Barbaros musiktheoretisch hergeleitete Proportionen sind als Ausdruck eines
intelligiblen und kommunizierbaren Systems in seiner kunsttheoretisch
entwickelten Ästhetik verwurzelt. Sein Diskurs, basierend auf genauen
musiktheoretischen Definitionen, ist eine folgerichtige Weiterführung seiner zu
Beginn des Vitruvkommentars dargelegten Auffassung, daß Kunst eine
intellektuelle und rational kontrollierte Tätigkeit sei, die nicht auf der sinnlichen

49 BARBARO, I dieci libri, S.26-27 und S.33.

50 Ebd., S.100-102; vgl. FEINSTEIN, Der Harmoniebegriff, S.140-142.

51 Vgl. ARISTOTELES, Metaphysica 1.5. (985b-986b).

52 PLATON, Timaeus 35b-36b.

53 BOETHIUS, De institutione musica 1.2.

54 ISIDOR VON SEVILLA, Etymologiarum libri XX 3.17., PL82, Sp.63-64.

55 Vgl. FEINSTEIN, Der Harmoniebegriff.
 
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