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DANIELE BARBARO

163

Wahrnehmung, sondern auf einem rationalen Prinzip basiere. Barbaros
allgemeine Würdigung der Proportion verweist auf dies intellektuell
anspruchsvolle und die sinnliche Wahrnehmung übersteigende Prinzip seiner
Kunsttheorie:
So groß ist die Macht der Proportion, solchermaßen ihre Notwendigkeit und
Nützlichkeit in den Dingen, daß niemand, weder mit dem Gehör noch mit dem
Auge oder den anderen Sinnen, irgendeine Ergötzung erfahren kann als durch die
Schicklichkeit, und die Verhältnismäßigkeit der vernünftigen Vorstellung
(ragione), dort wo alles jene, das erfreut und gefällt nicht anders erfreut und
gefällt, als daß es ein proportioniertes Maß und eine verhältnismäßige Mischung
annimmt. Nicht eher gelangen die Stimmen und Töne mit Ergötzen und
Wohlgefallen und durch das Gehör ins Gemüt, bevor sie in einem proportionalen
Verhältnis von Zeit und Abstand zusammenklingen. Die schönen Erfindungen des
Menschen haben desto mehr des Guten, je scharfsinniger sie proportioniert sind.
Die Proportion ist die wirksamste Sache bei der Zusammensetzung und Mischung
der einfachen Medizin, wie bei der Produktion tiriakischer und mithridatischer
Gegengifte. Göttlich ist die Macht der untereinander mit Vernunft (ragione) zu-
sammengestellten Zahlen. Man kann nicht behaupten, daß es im Aufbau dieses
Universums, das wir Welt nennen - und auch in der kleinen Welt - eine
weitläufigere und würdigere Sache gäbe, als die Übereinstimmung von Zahl, Maß
und Gewicht, durch welche die Zeit, der Raum, die Bewegungen, die Tugend, die
Epik, das Kunstwerk, die Natur, das Wissen sowie alle höchsten göttlichen und
menschlichen Dinge zusammengesetzt, aufgezogen (cresciuta) und perfektioniert
sind.56
In weniger pointierter Weise wiederholt Barbaro hier die auch von Luca Pacioli
und Cesare Cesariano formulierte Auffassung, daß die Proportion als
Übereinstimmung von Zahl, Maß und Gewicht in allen irdischen wie
kosmischen, künstlichen wie natürlichen Bereichen zu finden ist. Doch kann
hiermit nicht jenes elaborierte System vom proportione und proportionalitä
gemeint sein, auf dem die architekturtheoretische Ästhetik Barbaros beruht.
Denn er betont, daß im volkstümlichen Sprachgebrauch jede Übereinstimmung
und Ähnlichkeit als Proportion bezeichnet werde, wohingegen es ihm auf die
vera proportione ankäme.57 Diese Betonung einer gegenüber den alltäglichen
Maßverhältnissen existierenden wahren Proportion scheint notwendig, da
Barbaros proportionstheoretische Auffassung Teil seines logisch entwickelten
und intellektuell anspruchsvollen Systems ist. In dessen Argumentationsrahmen
fungiert die Proportion als Vermittler zwischen einem höheren Prinzip und
seiner operativen Umsetzung. Dieses Prinzip selbst ist fest im menschlichen
Verstand (mente) verankert, denn die sinnliche Wahrnehmung scheidet

56 Tanta ö la forza della proportione, tanta ö la necessitä, tanta ^ l'utilitä di essa nelle cose, ehe
non puo alcuno nb all'orecchie, nö agli occhi, nb agli altri sensi recare alcuna dilettatione senza la
conueneuolezza, & la rispondenza della ragione, la doue tutto quello, che diletta, o piace, non per
altro diletta & piace, se non perche tiene proportionata misura, & moderato temperamento. Non
prima con diletto, & piacere nell'animo per le orecchie discendeno le uoci, & i suoni, che tra se
non conuenghino in proportionata ragione di tempo, & di distanza. Le belle inuentioni de gli
huomini tanto hanno del buono, quanto piu ingeniosamente sono proportionate. Efficacissima
cosa b nel comporre, & mescolare le semplici medicine, la proportione, come nel fare Tiriaca, &
il Mitridato. Diuina ö la forza de i numeri tra se con ragione comparati. nb si puo dire, che nella
fabrica di questa uniueritä, che noi mondo chiamamo, & nel picciol mondo anchora, sia cosa piu
ampia, piu degna della conueneuolezza del peso, del numero, & della misura, con la quäle il
tempo, lo spacio, i mouimenti, la uirtü[,] la fauella, lo artificio, la natura, il sapere, & ogni cosa in
somma diuina, & humana ö composta, cresciuta, & perfetta. BARBARO, I dieci libri, 1567, S.97;
dieser Text befindet sich in der lateinischen Ausgabe auf S.57, in der Edition von 1556 auf S.80.

57 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.97-98.
 
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