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KAPITEL XI
musikalischen Harmonien sind insofern anthropomorph, als sie auf der Macht
jener Zahlen beruhen, die der Zusammensetzung des Universums
zugrundeliegen. Und weil der gemeinsame Nenner der gegeneinander aus-
getauschten Proportionssysteme der menschliche Körper ist, versucht Barbaro
schließlich, auch in dessen Komposition die Existenz jener Verhältnisse nach-
zuweisen, die für die Intervalle in der Musik gelten.67
Barbaros Versuch, musikalische Verhältnisse in der Physis des Menschen zu
benennen, macht aus der im Bild des menschlichen Körpers veranschaulichten
anthropomorphen Architekturauffassung ein Verbindungsglied zweier
verschiedener Konzepte von Proportionalität, nämlich des musikalischen
einerseits und des metrologischen andererseits; denn Vitruvs
Anthropomorphismus basiert nicht auf den musikalischen Harmonien, sondern
auf dem antiken System anthropomorpher Standardmaße. Die
Unterschiedlichkeit dieser Konzepte äußert sich sowohl in Barbaros begrenztem
Interesse an den metrologischen Grundlagen des von Vitruv beschriebenen Pro-
portionskanons als auch in seinem Verständnis der eurythmia. Wenn die
Eurythmie im ursprünglichen Sinne den Modus der richtigen Anwendung sowie
die Abänderung (Modifizierung) von Symmetrie bezeichnete (vgl. Kap. II.7),
dann trifft ihr Verständnis durch Barbaro zumindest teilweise zu, denn die von
Barbaro bel numero genannte eurythmia repräsentiert das Prinzip eines pro-
portionierten Maßes. Doch die Übereinstimmung mit Vitruv reicht nur bis zu
diesem Punkt, weil Barbaros Prinzip der proportionierten Maße nicht, wie bei
Vitruv, auf der Basis metrologischer Konventionen, sondern auf dem
Harmoniesystem der Musiktheorie kalkuliert wird. Als Beispiel mögen die Pro-
portionsmodifikationen Vitruvs dienen, die mit duodezimalen Kalku-
lationssystemen berechnet werden. Eine solche Berechnung müßte musiktheo-
retisch anders aussehen, weil die Ganz- und Halbtöne auf der Tonleiter anders
verteilt sind als die Maßeinheiten auf einer Meßlatte. D.h. da die musikalischen
Töne auf einem akustisch determinierten System basieren, können sie nicht
immer mit Längendimensionen verglichen werden, denn deren Berechnung
geschieht - zumindest bei Vitruv - auf der Grundlage des Duodezimalsystems.
Im Sinne von Kalkulierbarkeit handelt es sich bei Barbaro also um eine
Variante der eurythmia, die mit derjenigen Vitruvs nicht kompatibel ist. Doch
ergeben sich hieraus für Barbaro, der nicht Architekt, sondern Auftraggeber
war, keine tiefgreifenden praktischen Probleme, da Vitruvs aus der
anthropomorphen Metrologie und der Duodezimalrechnung abgeleitetes System
eine Möglichkeit der Gebäudeproportionierung ist und Barbaros musiktheore-
tische Vorgehensweise eine andere.
67 Ebd., S.111.
KAPITEL XI
musikalischen Harmonien sind insofern anthropomorph, als sie auf der Macht
jener Zahlen beruhen, die der Zusammensetzung des Universums
zugrundeliegen. Und weil der gemeinsame Nenner der gegeneinander aus-
getauschten Proportionssysteme der menschliche Körper ist, versucht Barbaro
schließlich, auch in dessen Komposition die Existenz jener Verhältnisse nach-
zuweisen, die für die Intervalle in der Musik gelten.67
Barbaros Versuch, musikalische Verhältnisse in der Physis des Menschen zu
benennen, macht aus der im Bild des menschlichen Körpers veranschaulichten
anthropomorphen Architekturauffassung ein Verbindungsglied zweier
verschiedener Konzepte von Proportionalität, nämlich des musikalischen
einerseits und des metrologischen andererseits; denn Vitruvs
Anthropomorphismus basiert nicht auf den musikalischen Harmonien, sondern
auf dem antiken System anthropomorpher Standardmaße. Die
Unterschiedlichkeit dieser Konzepte äußert sich sowohl in Barbaros begrenztem
Interesse an den metrologischen Grundlagen des von Vitruv beschriebenen Pro-
portionskanons als auch in seinem Verständnis der eurythmia. Wenn die
Eurythmie im ursprünglichen Sinne den Modus der richtigen Anwendung sowie
die Abänderung (Modifizierung) von Symmetrie bezeichnete (vgl. Kap. II.7),
dann trifft ihr Verständnis durch Barbaro zumindest teilweise zu, denn die von
Barbaro bel numero genannte eurythmia repräsentiert das Prinzip eines pro-
portionierten Maßes. Doch die Übereinstimmung mit Vitruv reicht nur bis zu
diesem Punkt, weil Barbaros Prinzip der proportionierten Maße nicht, wie bei
Vitruv, auf der Basis metrologischer Konventionen, sondern auf dem
Harmoniesystem der Musiktheorie kalkuliert wird. Als Beispiel mögen die Pro-
portionsmodifikationen Vitruvs dienen, die mit duodezimalen Kalku-
lationssystemen berechnet werden. Eine solche Berechnung müßte musiktheo-
retisch anders aussehen, weil die Ganz- und Halbtöne auf der Tonleiter anders
verteilt sind als die Maßeinheiten auf einer Meßlatte. D.h. da die musikalischen
Töne auf einem akustisch determinierten System basieren, können sie nicht
immer mit Längendimensionen verglichen werden, denn deren Berechnung
geschieht - zumindest bei Vitruv - auf der Grundlage des Duodezimalsystems.
Im Sinne von Kalkulierbarkeit handelt es sich bei Barbaro also um eine
Variante der eurythmia, die mit derjenigen Vitruvs nicht kompatibel ist. Doch
ergeben sich hieraus für Barbaro, der nicht Architekt, sondern Auftraggeber
war, keine tiefgreifenden praktischen Probleme, da Vitruvs aus der
anthropomorphen Metrologie und der Duodezimalrechnung abgeleitetes System
eine Möglichkeit der Gebäudeproportionierung ist und Barbaros musiktheore-
tische Vorgehensweise eine andere.
67 Ebd., S.111.