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KAPITEL XI
»Bedeutung« von Architektur (im Sinne von significare) postuliert und
mitgeteilt werden kann. Die musikalischen Proportionen selbst sind das
Medium eines Diskurses, dessen Teilnehmer sowohl Architekt und
Auftraggeber als auch jene Benutzer und Betrachter von Architektur sein
können, die an ihm durch die Lektüre von Kunstliteratur teilhaben. Die
Teilnehmer eines architekturtheoretischen Diskurses beziehen sich hierbei auf
die Bedeutung der Architektur, die durch die Proportion sowohl induziert als
auch erkenn- und kommunizierbar gemacht ist. Das »Bedeuten« (significare)
selbst geschieht, wie Barbaro schreibt, durch jene vernünftige Vorstellung
(ragione) im Verstand des Architekten, die durch Proportion ausgedrückt wird.71
Proportionen sind also die »bedeutende Sache« (cosa significante) sowie
mitteilbares und mitteilendes Medium zugleich. Vitruvs Proportionsfigur ist in
diesem Modell ein Kristallisationspunkt, um den sich die zum Bedeutungs- und
Kommunikationsmodell gewordene Proportionstheorie gruppiert. Sie ist
Rudiment einer anderen, nämlich anthropomorphen Auffassung von Architek-
tur und dient als gemeinsamer Nenner zweier Vorstellungen, die einer
vermittelnden Instanz bedürfen. Bezeichnend für die Zweitrangigkeit des
Anthropomorphismus ist in der oben zitierten Textstelle der Einschub über den
Mensch als Mikrokosmos (picciol mondo), denn er taucht lediglich in der
italienischen Ausgabe von 1567 auf, nicht aber in den beiden anderen
Editionen, der lateinischen des gleichen Jahres sowie in der italienischen von
1556.72 Die Erklärung für diese geringfügige Abweichung ergibt sich
unmittelbar aus Barbaros Proportionstheorie, denn deren Differenziertheit
beruht auf einer intellektuellen Komplexität, die durch das einfache Bild vom
Menschen nicht hätte kommuniziert werden können. Barbaro befindet sich mit
seiner Proportionslehre auf einer anderer Kommunikationsebene als Vitruv und
Cesariano, denn ihn interessiert weniger die für Architekten und
Bauhandwerker relevante Proportionalität anthropomopher Maßverhältnisse als
vielmehr die Proportionalität einer kunsttheoretischen Systematik, deren
Mitteilbarkeit den theoretischen Diskurs mit Architekten und anderen
Auftraggebern gewährleistete. Durch dies differenzierte architekturtheoretische
Kommunikationsmodell unterscheidet er sich auch von den Theoretikern des
15. Jahrhunderts, von Filarete und Francesco di Giorgio Martini, in deren
Diskurs der Anthropomorphismus noch eine weitaus bedeutendere Rolle spielte
(vgl. Kap. IV).
5. Zusammenfassung - Cesariano, Philandrier, Barbaro
Cesare Cesariano, Guillaume Philandrier und Daniele Barbaro, die drei
wichtigsten Kommentatoren Vitruvs, verstanden dessen Proportionsfigur
keineswegs als das Symbol einer metaphysischen Architekturauffassung. Die
Kommentare zeigen generell kein homogenes Interpretationsmuster und
entwickeln am Beispiel jener Figur die verschiedensten Vorstellungen, die nicht
immer mit den von Vitruv selbst erläuterten Zusammenhängen harmonieren. So
hatten die weniger praktisch orientierten Theoretiker wie Barbaro und
Philandrier kein nennenswertes Interesse an dem metrologischen und
71 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.11.
72 Vgl. ebd., S.97, in der lateinischen Ed. S.80, in der italienischen von 1556 S.57.
KAPITEL XI
»Bedeutung« von Architektur (im Sinne von significare) postuliert und
mitgeteilt werden kann. Die musikalischen Proportionen selbst sind das
Medium eines Diskurses, dessen Teilnehmer sowohl Architekt und
Auftraggeber als auch jene Benutzer und Betrachter von Architektur sein
können, die an ihm durch die Lektüre von Kunstliteratur teilhaben. Die
Teilnehmer eines architekturtheoretischen Diskurses beziehen sich hierbei auf
die Bedeutung der Architektur, die durch die Proportion sowohl induziert als
auch erkenn- und kommunizierbar gemacht ist. Das »Bedeuten« (significare)
selbst geschieht, wie Barbaro schreibt, durch jene vernünftige Vorstellung
(ragione) im Verstand des Architekten, die durch Proportion ausgedrückt wird.71
Proportionen sind also die »bedeutende Sache« (cosa significante) sowie
mitteilbares und mitteilendes Medium zugleich. Vitruvs Proportionsfigur ist in
diesem Modell ein Kristallisationspunkt, um den sich die zum Bedeutungs- und
Kommunikationsmodell gewordene Proportionstheorie gruppiert. Sie ist
Rudiment einer anderen, nämlich anthropomorphen Auffassung von Architek-
tur und dient als gemeinsamer Nenner zweier Vorstellungen, die einer
vermittelnden Instanz bedürfen. Bezeichnend für die Zweitrangigkeit des
Anthropomorphismus ist in der oben zitierten Textstelle der Einschub über den
Mensch als Mikrokosmos (picciol mondo), denn er taucht lediglich in der
italienischen Ausgabe von 1567 auf, nicht aber in den beiden anderen
Editionen, der lateinischen des gleichen Jahres sowie in der italienischen von
1556.72 Die Erklärung für diese geringfügige Abweichung ergibt sich
unmittelbar aus Barbaros Proportionstheorie, denn deren Differenziertheit
beruht auf einer intellektuellen Komplexität, die durch das einfache Bild vom
Menschen nicht hätte kommuniziert werden können. Barbaro befindet sich mit
seiner Proportionslehre auf einer anderer Kommunikationsebene als Vitruv und
Cesariano, denn ihn interessiert weniger die für Architekten und
Bauhandwerker relevante Proportionalität anthropomopher Maßverhältnisse als
vielmehr die Proportionalität einer kunsttheoretischen Systematik, deren
Mitteilbarkeit den theoretischen Diskurs mit Architekten und anderen
Auftraggebern gewährleistete. Durch dies differenzierte architekturtheoretische
Kommunikationsmodell unterscheidet er sich auch von den Theoretikern des
15. Jahrhunderts, von Filarete und Francesco di Giorgio Martini, in deren
Diskurs der Anthropomorphismus noch eine weitaus bedeutendere Rolle spielte
(vgl. Kap. IV).
5. Zusammenfassung - Cesariano, Philandrier, Barbaro
Cesare Cesariano, Guillaume Philandrier und Daniele Barbaro, die drei
wichtigsten Kommentatoren Vitruvs, verstanden dessen Proportionsfigur
keineswegs als das Symbol einer metaphysischen Architekturauffassung. Die
Kommentare zeigen generell kein homogenes Interpretationsmuster und
entwickeln am Beispiel jener Figur die verschiedensten Vorstellungen, die nicht
immer mit den von Vitruv selbst erläuterten Zusammenhängen harmonieren. So
hatten die weniger praktisch orientierten Theoretiker wie Barbaro und
Philandrier kein nennenswertes Interesse an dem metrologischen und
71 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.11.
72 Vgl. ebd., S.97, in der lateinischen Ed. S.80, in der italienischen von 1556 S.57.