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KAPITEL XII

andererseits muß in Rechnung gestellt werden, daß gerade die platonisch-
pythagoräischen Harmoniekonzepte dieses Werkes die Voraussetzung für S.
Francesco della Vigna abgaben. Daher stellt sich die Frage nach dem
eigentlichen architekturhistorischen Wert von De harmonia mundi.
2. Das Memorandum für S. Francesco della Vigna
Das Memorandum für S. Francesco della Vigna wurde am ersten April 1535,
sieben Monate nach der Grundsteinlegung, unterzeichnet und hatte vor allem
den Zweck, in der Zwischenzeit entstandene Zweifel am Sinn des Neu- bzw.
Umbaus der Kirche auszuräumen. Möglicherweise vor dem Hintergrund der
durch den Dogen Andrea Gritti angeregten renovatio urbis Venetiarum
einerseits und der religiösen Erneuerung des Franziskanerordens andererseits,
sollten die im Memorandum zum Ausdruck gebrachten Harmonievorstellungen
einer befürchteten Infragestellung des gesamten Projekts begegnen.10
Im Memorandum erläutert Giorgi, wie die Kirche gemäß den harmonischen
Proportionen, mit denen Plato im Timaeus den Zusammenklang des Weltenbaus
und seiner Teile beschrieben habe, vollendet werden könne. Die Grundlage der
hierzu empfohlenen Rationes hatte er bereits in De harmonia mundi ausführlich
dargelegt. Ausgehend von den sieben Zahlen des Platonischen Lambda, die die
Harmonie des Weltalls darstellen, drückt Giorgi die Proportionen der Kirche in
musikalischen Verhältnissen wie Quinte (2:3), Quarte (3:4), Oktave (1:2) usw.
aus.11 Weder Vitruv noch dessen Proportionsfigur werden im Memorandum
erwähnt; lediglich eine aus der Bibel abgeleitete anthropomorphe Archi-
tekturauffassung erinnert an Vitruvs Bemerkung, daß die heiligen Gebäude
gemäß den Proportionen des menschlichen Körpers zu errichten seien:
Als jener [d.i. Gott] dem Moses die Gestalt und Proportion der Stiftshütte
offenbaren wollte, die er zu errichten hatte, da gab er ihm zum Vorbild das Welt-
gebäude und sprach (wie geschrieben steht in Exodus 25): »Und siehe zu, daß du
es machest nach ihrem Bilde, das du auf dem Berge gesehen hast.« Dieses Bild
war gemäß der Auffassung aller Weisen der Bau der Welt. Und mit Recht, denn es
geziemt sich, daß Gott einen besonderen und den Gebräuchen entsprechenden
Aufenthaltsort habe. Davon steht geschrieben in Jesaia 66: »Der Himmel ist mein
Reich und die Erde der Schemel meiner Füße.« Schließlich wollte der gepriesene
Gott, daß dieses besondere Gebäude seinem Weltall ähnele, nicht an Größe, denn
dessen bedarf er nicht, noch an Pracht, sondern an Proportion, welche er nicht nur
an den Stätten fordert, wo er auf Erden wohnt, sondern zuvörderst in uns
Menschen, von denen Paulus, an die Korinther schreibend, sagt: »Ihr seid der
Tempel des lebendigen Gottes.« Über dieses Geheimnis nachdenkend, gab Salomo
der Weise dem herrlichen Tempel, den er erbaute, die Proportionen der Stiftshütte
des Moses.12

10 Vgl. FOSCARI/TAFURI, L'armonia e i conflitti, bes. S.70-78 und S.34-36.

11 Vgl. WITTKOWER, Architectural Principles, S.89-100.

12 II qual [i.e.Iddio] volendo instruere Mosö della forma et proportione del Tabernacolo, ch' egli
havea a fare, li diedi per modello la fabrica di questa casa mondana, dicendo (si come ö scritto
nell' Esodo al vigesimoquinto): Guarda et fa secondo l'essemplare, ehe si ^ mostrato nel monte. II
qual essemplare, secondo l'opinione di tutti li Saggi, fu la fabrica del Mondo. Et meritamente,
perchö il dover era, ehe havesse il luogho particolare ad habitar, conforme al commune, del quäle
t scritto in Isaia, al sessagesimo sesto: II cielo ^ la mia reggia, et la terra il scabello delli miei
piedi. Volse dunque Iddio benedetto questa fabrica particolare simile alla sua machina grande,
non in quantitä, della quäle egli non ha bisogno, nd diletto, ma simile in proportione, la qual egli
volle non solamente nelli luoghi materiali ove habita, ma singolarmente in nui, delli quali dice
 
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