FRANCESCO GIORGI
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detailversessen war, lag Vitruv, dessen De architectura als antikes Traktat ein
höheres Ansehen genoß als zeitgenössische Werke, am nächsten. Vermutlich
waren die Proportionen aus De architectura auch brauchbarer, weil sie in Form
von Brüchen mit den ebenso ausdrückbaren musikalischen Harmonien
verglichen werden konnten. Der entscheidende Grund für die Wahl Vitruvs
dürfte jedoch in Giorgis architektonischer Erfahrung gelegen haben und in der
Tatsache, daß Vitruv ein anthropomorphes Architekturverständnis formuliert,
aus dem umgekehrt auch die Vornehmheit des menschlichen Körpers abgeleitet
werden konnte. Giorgi bedient sich dieser Möglichkeit, um damit in die
Argumentation eines unarchitektonischen Zusammenhangs einzuführen. Dabei
werden zwar Vitruvische Proportionen benutzt, doch nicht als Ausdruck eines
bestimmten Verständnisses von Architektur. Das ergibt sich aus dem simplen
Faktum, daß Giorgi weder auf den homo ad quadratum und dessen archi-
tekturtheoretische Konnotation noch auf dessen uns geläufige Interpretation als
Mikrokosmos eingeht. Lediglich in der ersten Erörterung des kreisförmigen
Strebens zur Übereinstimmung mit Gott wird eine Figur als Symbol benutzt.
Bezeichnenderweise bezieht sich Giorgi in diesem Zusammenhang weder auf
Vitruv noch auf dessen Angaben zum homo ad circulum. Vielmehr geht die
Illustration dieser Figur auf die Tradition der Atlasdarstellungen zurück,
während ihre inhaltliche Diskussion pseudo-hermetischen und Plotinischen
Überlieferungen verpflichtet ist.
Den Quellen ist also nicht zu entnehmen, daß Francesco Giorgi die Propor-
tionsfigur Vitruvs im Sinne einer uns heute geläufigen Symbolik verstanden
hätte. Denn im Memorandum für S. Francesco della Vigna erhält die archi-
tekturtheoretische Diskussion ihren Ausdruck keineswegs durch diese Figur,
und in De harmonia mundi ist dieselbe Figur weder Symbol einer bestimmten
Mikrokosmosidee noch Ausdruck einer speziellen Architekturauffassung.
Giorgi bediente sich dabei anthropomorpher Veranschaulichungen, deren
vergleichendes Medium der menschliche Körper war. Diese Veranschau-
lichungen sowie religiöse Konzepte der christlichen Kabbala, des Neo-
Platonismus und der pythagoräischen Zahlenmystik erörterte Giorgi in seiner
zutiefst theologischen Darstellung, wie der Mensch mit Gott Übereinstimmung
finden könne. Hierbei wurde es notwendig, die Vornehmheit der menschlichen
Proportionen zu erläutern; die Quelle für diese Proportionen war Vitruv.
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detailversessen war, lag Vitruv, dessen De architectura als antikes Traktat ein
höheres Ansehen genoß als zeitgenössische Werke, am nächsten. Vermutlich
waren die Proportionen aus De architectura auch brauchbarer, weil sie in Form
von Brüchen mit den ebenso ausdrückbaren musikalischen Harmonien
verglichen werden konnten. Der entscheidende Grund für die Wahl Vitruvs
dürfte jedoch in Giorgis architektonischer Erfahrung gelegen haben und in der
Tatsache, daß Vitruv ein anthropomorphes Architekturverständnis formuliert,
aus dem umgekehrt auch die Vornehmheit des menschlichen Körpers abgeleitet
werden konnte. Giorgi bedient sich dieser Möglichkeit, um damit in die
Argumentation eines unarchitektonischen Zusammenhangs einzuführen. Dabei
werden zwar Vitruvische Proportionen benutzt, doch nicht als Ausdruck eines
bestimmten Verständnisses von Architektur. Das ergibt sich aus dem simplen
Faktum, daß Giorgi weder auf den homo ad quadratum und dessen archi-
tekturtheoretische Konnotation noch auf dessen uns geläufige Interpretation als
Mikrokosmos eingeht. Lediglich in der ersten Erörterung des kreisförmigen
Strebens zur Übereinstimmung mit Gott wird eine Figur als Symbol benutzt.
Bezeichnenderweise bezieht sich Giorgi in diesem Zusammenhang weder auf
Vitruv noch auf dessen Angaben zum homo ad circulum. Vielmehr geht die
Illustration dieser Figur auf die Tradition der Atlasdarstellungen zurück,
während ihre inhaltliche Diskussion pseudo-hermetischen und Plotinischen
Überlieferungen verpflichtet ist.
Den Quellen ist also nicht zu entnehmen, daß Francesco Giorgi die Propor-
tionsfigur Vitruvs im Sinne einer uns heute geläufigen Symbolik verstanden
hätte. Denn im Memorandum für S. Francesco della Vigna erhält die archi-
tekturtheoretische Diskussion ihren Ausdruck keineswegs durch diese Figur,
und in De harmonia mundi ist dieselbe Figur weder Symbol einer bestimmten
Mikrokosmosidee noch Ausdruck einer speziellen Architekturauffassung.
Giorgi bediente sich dabei anthropomorpher Veranschaulichungen, deren
vergleichendes Medium der menschliche Körper war. Diese Veranschau-
lichungen sowie religiöse Konzepte der christlichen Kabbala, des Neo-
Platonismus und der pythagoräischen Zahlenmystik erörterte Giorgi in seiner
zutiefst theologischen Darstellung, wie der Mensch mit Gott Übereinstimmung
finden könne. Hierbei wurde es notwendig, die Vornehmheit der menschlichen
Proportionen zu erläutern; die Quelle für diese Proportionen war Vitruv.