SCHLUSS
205
2. Ausblick
Die bis Barbaro verfaßten Interpretationen der Proportionsfigur Vitruvs waren
zum größten Teil selbständig entwickelte Analysen und Anschauungen, die - in
von Fall zu Fall unterschiedlichem Maße - auf individuelle Interessen zurück-
geführt werden konnten. Diese Interessen und Analysen spiegelten Teile der
Lebenspraxis ihrer Autoren wider, und sie zeugten von einer unmittelbar er-
fahrenen Wiederentdeckung des Klassischen Altertums. Doch begann bereits in
diesem Zeitraum eine Entwicklung, in deren Verlauf der homo vitruvianus
zunehmend mittelbar und weniger aus konkreter persönlicher Erfahrung heraus
verstanden werden konnte. Vor allem mit Agrippas Erweiterung der bei
Francesco Giorgi ausgedeuteten Mikrokosmosvorstellung und deren Über-
tragung auf die Vitruvstudien Leonardos entstand eine ideengeschichtliche
Grundlage für jene späteren Autoren, deren Interpretationen nicht mehr nur
kunst- oder architekturtheoretischer, sondern auch naturphilosophischer Art
waren. Im Gegensatz zu den Anschaungen Leonardos, Paciolis, Dürers, Cesa-
rianos oder Barbaros, die auf individuellen und teilweise praktisch-künst-
lerischen Erfahrungen basierten, konnten sich spätere Theoretiker - begünstigt
etwa durch den expandierenden Buchdruck - auf bereits aufgearbeitetes
Material und vorgeprägte Auffassungen stützen. Gleichzeitig tendierte die
Kunstliteratur im weiteren Verlauf des Cinquecento zu vergleichsweise ein-
heitlichen Auslegungen des homo vitruvianus, ein Umstand, der auf einen fort-
schreitenden Prozeß der Theoretisierung zurückgeführt werden könnte. Als
deren Quellen dienten Agrippas Occulta philosophia, die auf Michele Savo-
narola basierende Proportionslehre des Pomponius Gauricus (1509), Albrecht
Dürers vier Bücher von menschlicher Proportion (1528) und schließlich Vitruvs
De architectura selbst. Beispiele einer gegenüber dem späten 15. und frühen 16.
Jahrhundert homogenen Rezeption des homo vitruvianus waren - in der
Kunstliteratur - Niccolo Franco, Paolo Pino, Lodovico Dolce und Gian Paolo
Lomazzo. Zu den weniger bekannten Autoren, die sich vor allem an Agrippa
orientierten, zählten Helkiah Crooke, John Heydon, Franciscus Mercurius van
Helmont und Johannes Zahn (vgl. Appendix 6).
Daneben entstanden gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts
sowohl kunsttheoretische Traktate als auch Abhandlungen allgemeinerer Natur,
die originelle und zum Teil umfangreiche Gedanken zur Proportionsfigur
Vitruvs enthalten. Hierzu gehören Robert Fludds Werke über Mikro- und
Makrokosmos, deren Illustrationen teilweise denjenigen der Occulta phi-
losophia verpflichtet sind. Eigene Wege gehen auch Jeronimo Prado und Juan
Baptista Villalpando, die Vitruvs homo ad quadratum in Form eines mit ver-
schränkten Armen stehenden Mannes erläutern, um so eine dreischiffige Kirche
anthropomorph begründen zu können. Weniger kurios äußerten sich Künstler
und Kunsttheoretiker wie Vincenzo Scamozzi oder Federico Zuccaro. Eine
prägnante Formulierung findet sich schließlich bei Pietro Antonio Barca, einem
um 1600 in Mailand tätigen Architekten und Ingenieur, der exakt jene Auffas-
sung beschreibt, die den Theoretikern des 16. Jahrhunderts gemeinhin
unterstellt wird (vgl. Appendix 7).
205
2. Ausblick
Die bis Barbaro verfaßten Interpretationen der Proportionsfigur Vitruvs waren
zum größten Teil selbständig entwickelte Analysen und Anschauungen, die - in
von Fall zu Fall unterschiedlichem Maße - auf individuelle Interessen zurück-
geführt werden konnten. Diese Interessen und Analysen spiegelten Teile der
Lebenspraxis ihrer Autoren wider, und sie zeugten von einer unmittelbar er-
fahrenen Wiederentdeckung des Klassischen Altertums. Doch begann bereits in
diesem Zeitraum eine Entwicklung, in deren Verlauf der homo vitruvianus
zunehmend mittelbar und weniger aus konkreter persönlicher Erfahrung heraus
verstanden werden konnte. Vor allem mit Agrippas Erweiterung der bei
Francesco Giorgi ausgedeuteten Mikrokosmosvorstellung und deren Über-
tragung auf die Vitruvstudien Leonardos entstand eine ideengeschichtliche
Grundlage für jene späteren Autoren, deren Interpretationen nicht mehr nur
kunst- oder architekturtheoretischer, sondern auch naturphilosophischer Art
waren. Im Gegensatz zu den Anschaungen Leonardos, Paciolis, Dürers, Cesa-
rianos oder Barbaros, die auf individuellen und teilweise praktisch-künst-
lerischen Erfahrungen basierten, konnten sich spätere Theoretiker - begünstigt
etwa durch den expandierenden Buchdruck - auf bereits aufgearbeitetes
Material und vorgeprägte Auffassungen stützen. Gleichzeitig tendierte die
Kunstliteratur im weiteren Verlauf des Cinquecento zu vergleichsweise ein-
heitlichen Auslegungen des homo vitruvianus, ein Umstand, der auf einen fort-
schreitenden Prozeß der Theoretisierung zurückgeführt werden könnte. Als
deren Quellen dienten Agrippas Occulta philosophia, die auf Michele Savo-
narola basierende Proportionslehre des Pomponius Gauricus (1509), Albrecht
Dürers vier Bücher von menschlicher Proportion (1528) und schließlich Vitruvs
De architectura selbst. Beispiele einer gegenüber dem späten 15. und frühen 16.
Jahrhundert homogenen Rezeption des homo vitruvianus waren - in der
Kunstliteratur - Niccolo Franco, Paolo Pino, Lodovico Dolce und Gian Paolo
Lomazzo. Zu den weniger bekannten Autoren, die sich vor allem an Agrippa
orientierten, zählten Helkiah Crooke, John Heydon, Franciscus Mercurius van
Helmont und Johannes Zahn (vgl. Appendix 6).
Daneben entstanden gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts
sowohl kunsttheoretische Traktate als auch Abhandlungen allgemeinerer Natur,
die originelle und zum Teil umfangreiche Gedanken zur Proportionsfigur
Vitruvs enthalten. Hierzu gehören Robert Fludds Werke über Mikro- und
Makrokosmos, deren Illustrationen teilweise denjenigen der Occulta phi-
losophia verpflichtet sind. Eigene Wege gehen auch Jeronimo Prado und Juan
Baptista Villalpando, die Vitruvs homo ad quadratum in Form eines mit ver-
schränkten Armen stehenden Mannes erläutern, um so eine dreischiffige Kirche
anthropomorph begründen zu können. Weniger kurios äußerten sich Künstler
und Kunsttheoretiker wie Vincenzo Scamozzi oder Federico Zuccaro. Eine
prägnante Formulierung findet sich schließlich bei Pietro Antonio Barca, einem
um 1600 in Mailand tätigen Architekten und Ingenieur, der exakt jene Auffas-
sung beschreibt, die den Theoretikern des 16. Jahrhunderts gemeinhin
unterstellt wird (vgl. Appendix 7).