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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0100
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KAPITEL VI

von 1493.8 Als Modell diente hier vermutlich eine Prostituierte9, denn die
Kombination von Haartracht und Schleier10 sowie der einladende Gestus
verweisen auf diese Möglichkeit, die nahe lag, weil Aktzeichnungen nach
lebenden Modellen in jener Zeit nicht selbstverständlich gewesen sein dürften
(die ersten offiziell zugelassenen Aktklassen sind für das Jahr 1703 in Nürnberg
nachgewiesen11). Andererseits ist späteren Empfehlungen Dürers zu entnehmen,
daß Messungen von und Zeichnungen nach nackten Körpern keineswegs
unmöglich waren.12
Die ersten Aktstudien konnten nur dem begrenzten Zweck dienen, eine
möglichst vollkommene Fertigkeit in der richtigen Wiedergabe des
Darzustellenden zu erlangen. Damit war das Problem der an der Realität
gemessenen formalen Richtigkeit13 - Talent und Übung vorausgesetzt - lösbar,
nicht aber der Anspruch einer normativen Richtigkeit. Diese theoretisch
sanktionierte ästhetische Norm findet sich in der Kunstliteratur der italienischen
Renaissance; sie beruhte auf der Naturnachahmung und bezog - wie das
Beispiel Lorenzo Ghibertis zeigt - ihre theoretische Legitimation sowohl aus
den literarischen Überlieferungen als auch aus den künstlerischen Monumenten
des klassischen Altertums. Deren Kenntnis versuchte sich Dürer durch das
Studium der antikisierenden Werke italienischer Künstler sowie durch die
Auseinandersetzung mit klassischen Schriftstellern zu verschaffen. Zu diesen
gehörten neben Vitruv die teilweise auch über Kunst und Künstler berichtenden
Cicero, Plinius und Lukian (s.u.).
Zeitlich vor der Auseinandersetzung mit Vitruv und anderen Autoren stand
das Studium antiker Kunstwerke, das mangels direkter Kenntnis antiker
Originale auf die Antikenkopien zeitgenössischer Künstler beschränkt war. Dies
lag dem jungen Künstler zunächst näher, denn das Studium klassischer Autoren
gehörte schon damals nicht zur Ausbildung der Goldschmiede- und
Malerlehrlinge. Diese Lücke schloß im Falle Dürers allerdings sein Freund
Willibald Pirckheimer, der 1495 von einem längeren Italienaufenthalt nach
Nürnberg zurückkehrte.14
Die genauen italienischen Vorbilder der antikisierenden Zeichnungen Dürers
sind nicht immer bekannt15; die einzelnen Zuweisungen stützen sich daher
teilweise auf stilistische Übereinstimmungen und auf Kopien anonymer
Künstler nach Originalen Andrea Mantegnas, Antonio Pollaiuolos und Jacopo
de' Barbaris, die wiederum identifizierbare oder nicht identifizierbare antike

8 Vgl. WINKLER, Zeichnungen Dürers, Bd.l, S.26.

9 Vgl. J. MEDER, Die Handzeichnung, Wien, S.398; vgl. hierzu auch die tatsächlichen
Badefrauen, W.152, datiert 1496.

10 Vgl. K. WEINHOLD, Die deutschen Frauen im Mittelalter, 2Bde., 3.Aufl., Wien 1897, Bd.2,
S.305.

11 Vgl. MEDER, Handzeichnung, S.392.

12 Vgl. H. RUPPRICH, Albrecht Dürer. Schriftlicher Nachlaß, 3Bde., Berlin 1956-1969, Bd.l,
S.100, Z.12-13, Bd.2, S.48, Z.163-165 (auf die Kopfmaße bezogen?), und S.50.

13 Zum »Richtigkeitsproblem« vgl. PANOFSKY, Dürers Kunsttheorie, S.8-9.

14 Pirckheimer ging vermutlich 1488 nach Italien und war im Oktober 1495 wieder in Nürnberg;
vgl. H. RUPPRICH, Willibald Pirckheimer und die erste Reise Dürers nach Italien, Wien 1930;
dens., Dürers Nachlaß, Bd.2, S.33, und dens., Dürer und Pirckheimer. Geschichte einer
Freundschaft, in: Albrecht Dürers Umwelt (Nürnberger Forschungen 15), Nürnberg 1971,
S.78-100.

15 Eine Zusammenstellung der aus italienischen Vorlagen geschöpften Antikenkopien Dürers
findet sich im Katalog Albrecht Dürer 1471 1971, München 1971, S.263-278 (betreut von Erika
Simon).
 
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