ALBRECHT DÜRER
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früher zu datierenden Beispielen lediglich als Blindrillen, später dann aber ganz
mit der Feder durchgezogen sind.49 Dieses System ändert sich im Prinzip bis zur
1528 erschienenen Proportionslehre, in der es beinahe unendlich variiert wird,
nicht.
3. Die normative Richtigkeit
Die Entwürfe, in denen sich Dürer seit etwa 1507/1508 wieder verstärkt mit
Vitruv auseinandersetzte, sind zunächst ein Versuch, dessen Angaben zu den
menschlichen Proportionen im Sinne einer systematischen Maßbestimmung des
Körpers zu nutzen. Dabei ging er von den Proportionen 1/10, 1/8, 1/6 und 1/4
aus, die Vitruv für die obere Körperhälfte angegeben hatte50; in einem weiteren
Schritt übertrug Dürer sie auf die gesamte Länge eines stehenden Mannes.51 Die
vierfache Unterteilung in Zehntel, Achtel, Sechstel und Viertel wird hierbei mit
möglichst vielen Punkten am Körper in Verbindung gebracht, und besonders
markante weitere Stellen, die nicht in das vierfache Unterteilungssystem passen,
bestimmt Dürer durch nicht aus Vitruv stammende Brüche wie 1/5 oder 1/20.52
Gleichzeitig tauchen Reste von geometrischen Konstruktionsversuchen auf, die
er schon in vorhergehenden Studien (s.o.) mit dem Kanon Vitruvs in
Verbindung zu bringen versucht hatte. Doch insgesamt scheint ihm ein auf den
Vitruvischen Proportionen basierendes System zu schematisch gewesen zu sein,
denn seine eigene, teilweise aus Vitruv, teilweise aus den geometrischen Kon-
struktionen entwickelte Unterteilung der Längsachse einer stehenden Figur
erlaubte jene größere Flexibilität, die in der später veröffentlichten Propor-
tionslehre die Erschaffung und Variation mehrerer Proportionstypen möglich
machen sollte.53
Im Verlauf seines wiedererwachten Interesses für Vitruv unternahm Dürer
auch zwei Versuche, den homo ad quadratum und den homo ad circulum
darzustellen. Dürers flüchtige Skizzen dieser beiden Figuren sind zwischen den
Jahren 1507 und 1508, also nach der zweiten Italienreise entstanden (Abb. 12
und 13). Sie gehören damit in eine Phase verstärkter kunsttheoretischer
Anstrengungen, die in dem Plan gipfelten, ein umfassendes Malereitraktat zu
verfassen, an dessen zentraler Stelle auch ein Abschnitt über das Maß des
Menschen stehen sollte. Die vermutlich etwas früher entstandene und ohne
begleitenden Text vorliegende Zeichnung ist eine flüchtige, in rotbrauner Tinte
ausgeführte Skizze, die den homo ad quadratum und den homo ad circulum in
zwei Darstellungen getrennt voneinander zeigt.54 Beide sind zu flüchtig, um als
Proportionsstudien im eigentlichen Sinne angesehen werden zu können.
Dasselbe gilt auch für die wahrscheinlich kurz darauf entstandene zweite Zeich-
49 Sowohl Blindrillen als auch Federstriche finden sich auf 5229, fol.133 v.
50 Vgl. London 5228, fol.164;5231, fol.4r (die beiden Skizzen links oben).
51 Vgl. London 5231, fols.lv-2r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.166.
52 Vgl. ebd, Bd.2, S.166-167.
53 Vgl. H. KLAIBER, Die Entwicklung in Dürers theoretischen Studien, in: Repertorium für
Kunstwissenschaft 38.1916, S.238-249.
54 London 5228, fo!.164v. RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.163 und S.165; eine
photographische Reproduktion findet sich ebd. aufTaf. 12, Nr.37.
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früher zu datierenden Beispielen lediglich als Blindrillen, später dann aber ganz
mit der Feder durchgezogen sind.49 Dieses System ändert sich im Prinzip bis zur
1528 erschienenen Proportionslehre, in der es beinahe unendlich variiert wird,
nicht.
3. Die normative Richtigkeit
Die Entwürfe, in denen sich Dürer seit etwa 1507/1508 wieder verstärkt mit
Vitruv auseinandersetzte, sind zunächst ein Versuch, dessen Angaben zu den
menschlichen Proportionen im Sinne einer systematischen Maßbestimmung des
Körpers zu nutzen. Dabei ging er von den Proportionen 1/10, 1/8, 1/6 und 1/4
aus, die Vitruv für die obere Körperhälfte angegeben hatte50; in einem weiteren
Schritt übertrug Dürer sie auf die gesamte Länge eines stehenden Mannes.51 Die
vierfache Unterteilung in Zehntel, Achtel, Sechstel und Viertel wird hierbei mit
möglichst vielen Punkten am Körper in Verbindung gebracht, und besonders
markante weitere Stellen, die nicht in das vierfache Unterteilungssystem passen,
bestimmt Dürer durch nicht aus Vitruv stammende Brüche wie 1/5 oder 1/20.52
Gleichzeitig tauchen Reste von geometrischen Konstruktionsversuchen auf, die
er schon in vorhergehenden Studien (s.o.) mit dem Kanon Vitruvs in
Verbindung zu bringen versucht hatte. Doch insgesamt scheint ihm ein auf den
Vitruvischen Proportionen basierendes System zu schematisch gewesen zu sein,
denn seine eigene, teilweise aus Vitruv, teilweise aus den geometrischen Kon-
struktionen entwickelte Unterteilung der Längsachse einer stehenden Figur
erlaubte jene größere Flexibilität, die in der später veröffentlichten Propor-
tionslehre die Erschaffung und Variation mehrerer Proportionstypen möglich
machen sollte.53
Im Verlauf seines wiedererwachten Interesses für Vitruv unternahm Dürer
auch zwei Versuche, den homo ad quadratum und den homo ad circulum
darzustellen. Dürers flüchtige Skizzen dieser beiden Figuren sind zwischen den
Jahren 1507 und 1508, also nach der zweiten Italienreise entstanden (Abb. 12
und 13). Sie gehören damit in eine Phase verstärkter kunsttheoretischer
Anstrengungen, die in dem Plan gipfelten, ein umfassendes Malereitraktat zu
verfassen, an dessen zentraler Stelle auch ein Abschnitt über das Maß des
Menschen stehen sollte. Die vermutlich etwas früher entstandene und ohne
begleitenden Text vorliegende Zeichnung ist eine flüchtige, in rotbrauner Tinte
ausgeführte Skizze, die den homo ad quadratum und den homo ad circulum in
zwei Darstellungen getrennt voneinander zeigt.54 Beide sind zu flüchtig, um als
Proportionsstudien im eigentlichen Sinne angesehen werden zu können.
Dasselbe gilt auch für die wahrscheinlich kurz darauf entstandene zweite Zeich-
49 Sowohl Blindrillen als auch Federstriche finden sich auf 5229, fol.133 v.
50 Vgl. London 5228, fol.164;5231, fol.4r (die beiden Skizzen links oben).
51 Vgl. London 5231, fols.lv-2r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.166.
52 Vgl. ebd, Bd.2, S.166-167.
53 Vgl. H. KLAIBER, Die Entwicklung in Dürers theoretischen Studien, in: Repertorium für
Kunstwissenschaft 38.1916, S.238-249.
54 London 5228, fo!.164v. RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.163 und S.165; eine
photographische Reproduktion findet sich ebd. aufTaf. 12, Nr.37.