LUCA PACIOLI
113
Manuskript, das ebenfalls die genannten anthropomorphen Zeichnungen
aufweist, könnte Pacioli tatsächlich gekannt haben, denn Leonardo, mit dem er
zwischen 1500 und 1506 in Florenz zeitweise zusammenwohnte, hatte es
zwischen 1506 und 1508 mit Glossen versehen.57 Pacioli kombinierte also das
in Künstlerkreisen bekannte und unmittelbar anthropomorphe Verständnis von
Architektur einerseits mit den kosmologischen Vorstellungen Platons und den
beispielhaft bei Honorius formulierten Gedanken zum Mikrokosmos
andererseits.
Auch in seiner direkten Auseinandersetzung mit Vitruvs Proportionsfigur
scheint Pacioli neben antiken und mittelalterlichen Quellen wiederum die
Trattati Francesco di Giorgios benutzt zu haben. Er argumentiert, daß die
Bedeutung von Kreis und Quadrat für die Architektur durch die ihnen
eingeschriebene Figur der menschlichen Proportionen belegt werde58; allerdings
ist seine Haltung in diesem Punkt von einer auffälligen Ignoranz gegenüber den
tatsächlichen Körperproportionen geprägt, denn zum einen bemerkt er den
Widerspruch im Kanon Vitruvs nicht (vgl. Kap. II)59, und zum anderen
beschreibt er den homo ad circulum in einer wenig verständigen Weise. So hält
seine Ansicht, daß der um den Nabel gezogene Kreis nicht nur die gespreizten
Hände und Füße, sondern auch den Scheitel (summita del capo) berühre, einer
Überprüfung nicht stand. Vorbilder für seine unrichtige Beschreibung einer
Figur im Kreis, dessen Umriß neben den Extremitäten auch den Scheitel
berührt, könnten sowohl die vor 1508 bekannten Atlasillustrationen (vgl. Kap.
III.5 und Appendix 4) als auch die Zeichnungen Francesco di Giorgio Martinis
gewesen sein.60 Letzteres ist allem Anschein nach der Fall, da Francesco di
Giorgios Studie zur Proportionsfigur Vitruvs im von Leonardo benutzten Codex
Ashburnhamianus 361 tatsächlich eine Illustration enthält, in der ein
umschreibender Kreis sowohl den Kopf als auch die Hände und Füße der
umschriebenen Figur berührt (Abb. 6).61 Allerdings bemühte sich Francesco di
Giorgio in seiner Zeichnung keineswegs, den Nabel der Proportionsfigur
Vitruvs in die Mitte des umschreibenden Kreises zu plazieren, denn dann hätte
der sehr entspannt wirkende Jüngling nicht gleichzeitig in das ebenfalls
eingezeichnete Quadrat gepaßt. Pacioli, dessen Kenntnis der Trattati Francesco
di Giorgios aufgrund der oben genannten Übereinstimmungen angenommen
werden kann, kombinierte also Vitruvs Angabe, daß der Nabel der Mittelpunkt
des menschlichen Körpers sei, mit seiner Beschreibung der Zeichnung aus dem
Codex Ashburnhamianus 361. Diese Verbindung zu Francesco di Giorgio ist
um so bemerkenswerter, als man erwarten würde, daß Pacioli die ungleich
elaboriertere Vitruvstudie seines Freundes Leonardo benutzt hätte; doch
Library, London]. Eine Beschreibung der einzelnen Manuskriptbätter in der Ed. Maltese, Bd.l,
S.250-289. Abbildungen der fols.l0v, llr und 13v des Codex Ashburnhamianus finden sich auch
bei PAPINI, Francesco di Giorgio, Bd.2, Taf.284 und 286 (zit. in Kap. IV.4.).
57 Vgl. PEDRETTI, Commentary, Bd.l, S.123 (zit. in Kap. V).
58 PACIOLI, Divina proportione, S.131.
59 Ebd., S.136.
60 FRANCESCO DI GIORGIO, Trattati di architettura, Biblioteca Reale, Turin, Codex
Saluzzianus 148, fol.6v (Abb. in der Ed.Maltese, Bd.l, Taf.8), und Biblioteca Marciana, Venedig,
Ms. It.IV. 3-4 (5541), fols.1-264, fol.lv [benutzt in einer photographischen Reproduktion,
Courtauld Institute, Conway Library]; Biblioteca Laurenziana, Florenz, Codex Ashburnhamianus
361, fol.5r.
61 FRANCESCO DI GIORGIO, Trattati di architettura, Biblioteca Laurenziana, Florenz, Codex
Ashburnhamianus 361, fol.5r.
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Manuskript, das ebenfalls die genannten anthropomorphen Zeichnungen
aufweist, könnte Pacioli tatsächlich gekannt haben, denn Leonardo, mit dem er
zwischen 1500 und 1506 in Florenz zeitweise zusammenwohnte, hatte es
zwischen 1506 und 1508 mit Glossen versehen.57 Pacioli kombinierte also das
in Künstlerkreisen bekannte und unmittelbar anthropomorphe Verständnis von
Architektur einerseits mit den kosmologischen Vorstellungen Platons und den
beispielhaft bei Honorius formulierten Gedanken zum Mikrokosmos
andererseits.
Auch in seiner direkten Auseinandersetzung mit Vitruvs Proportionsfigur
scheint Pacioli neben antiken und mittelalterlichen Quellen wiederum die
Trattati Francesco di Giorgios benutzt zu haben. Er argumentiert, daß die
Bedeutung von Kreis und Quadrat für die Architektur durch die ihnen
eingeschriebene Figur der menschlichen Proportionen belegt werde58; allerdings
ist seine Haltung in diesem Punkt von einer auffälligen Ignoranz gegenüber den
tatsächlichen Körperproportionen geprägt, denn zum einen bemerkt er den
Widerspruch im Kanon Vitruvs nicht (vgl. Kap. II)59, und zum anderen
beschreibt er den homo ad circulum in einer wenig verständigen Weise. So hält
seine Ansicht, daß der um den Nabel gezogene Kreis nicht nur die gespreizten
Hände und Füße, sondern auch den Scheitel (summita del capo) berühre, einer
Überprüfung nicht stand. Vorbilder für seine unrichtige Beschreibung einer
Figur im Kreis, dessen Umriß neben den Extremitäten auch den Scheitel
berührt, könnten sowohl die vor 1508 bekannten Atlasillustrationen (vgl. Kap.
III.5 und Appendix 4) als auch die Zeichnungen Francesco di Giorgio Martinis
gewesen sein.60 Letzteres ist allem Anschein nach der Fall, da Francesco di
Giorgios Studie zur Proportionsfigur Vitruvs im von Leonardo benutzten Codex
Ashburnhamianus 361 tatsächlich eine Illustration enthält, in der ein
umschreibender Kreis sowohl den Kopf als auch die Hände und Füße der
umschriebenen Figur berührt (Abb. 6).61 Allerdings bemühte sich Francesco di
Giorgio in seiner Zeichnung keineswegs, den Nabel der Proportionsfigur
Vitruvs in die Mitte des umschreibenden Kreises zu plazieren, denn dann hätte
der sehr entspannt wirkende Jüngling nicht gleichzeitig in das ebenfalls
eingezeichnete Quadrat gepaßt. Pacioli, dessen Kenntnis der Trattati Francesco
di Giorgios aufgrund der oben genannten Übereinstimmungen angenommen
werden kann, kombinierte also Vitruvs Angabe, daß der Nabel der Mittelpunkt
des menschlichen Körpers sei, mit seiner Beschreibung der Zeichnung aus dem
Codex Ashburnhamianus 361. Diese Verbindung zu Francesco di Giorgio ist
um so bemerkenswerter, als man erwarten würde, daß Pacioli die ungleich
elaboriertere Vitruvstudie seines Freundes Leonardo benutzt hätte; doch
Library, London]. Eine Beschreibung der einzelnen Manuskriptbätter in der Ed. Maltese, Bd.l,
S.250-289. Abbildungen der fols.l0v, llr und 13v des Codex Ashburnhamianus finden sich auch
bei PAPINI, Francesco di Giorgio, Bd.2, Taf.284 und 286 (zit. in Kap. IV.4.).
57 Vgl. PEDRETTI, Commentary, Bd.l, S.123 (zit. in Kap. V).
58 PACIOLI, Divina proportione, S.131.
59 Ebd., S.136.
60 FRANCESCO DI GIORGIO, Trattati di architettura, Biblioteca Reale, Turin, Codex
Saluzzianus 148, fol.6v (Abb. in der Ed.Maltese, Bd.l, Taf.8), und Biblioteca Marciana, Venedig,
Ms. It.IV. 3-4 (5541), fols.1-264, fol.lv [benutzt in einer photographischen Reproduktion,
Courtauld Institute, Conway Library]; Biblioteca Laurenziana, Florenz, Codex Ashburnhamianus
361, fol.5r.
61 FRANCESCO DI GIORGIO, Trattati di architettura, Biblioteca Laurenziana, Florenz, Codex
Ashburnhamianus 361, fol.5r.