Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
LUCA PACIOLI

117

einer prinzipiell proportional aufgefaßten Meß- und Kalkulationstechnik.
Paciolis Berücksichtigung der maßstäblichen Übertragungsmethode in seiner
Interpretation der Vitruvischen Proportionsfigur erklärt sich aus den
Übereinstimmungen, die zwischen den ursprünglichen Intentionen Vitruvs (vgl.
Kap. II) und den praktischen Erfahrungen Paciolis bestehen. Denn dessen
Kontakte zu bildenden Künstlern, Handwerkern und Architekten sowie seine
Kenntnis sowohl angewandter als auch theoretischer Arithmetik und Geometrie
verschafften ihm die Vertrautheit mit jenen Proportionsprinzipien, die den aus
Bautechnologie, praktischer Geometrie und angewandter Metrologie
entwickelten Angaben Vitruvs zugrundeliegen. Daneben interpretiert er den
menschlichen Körper als ein »Abbild« (simulacro) der Architektur, indem er
die körperliche Eigenschaft der Proportion des menschlichen Körpers mit der
Proportion in der Architektur identifiziert und gleichzeitig die anthropomorphe
Analogie vom Gebäude auf den Menschen überträgt.
Anläßlich der Landvermessung kommt Pacioli auch auf den Menschen als
Mikrokosmos (mondo piccolo) zu sprechen; der Mikrokosmos ist hier nicht -
wie gemäß unserem heutigen Verständnis und der Übersetzung Winterbergs -
das »Sinnbild« einer metaphysischen Architekturauffassung. Das von Pacioli
verwendete Wort simulacro dürfte im Italienischen des 15. und 16. Jahrhunderts
eher im Sinne von »Abbild« verstanden worden sein. Diese Bedeutung gilt etwa
noch in der 1558 erschienenen italienischen Übersetzung des Timaeus, in der
simulacro für pipijiia oder acpopoicopa steht.68 Die von Pacioli entwickelte
metaphysische Proportionslehre fand also in Vitruvs Proportionsfigur
keineswegs ihren sinnbildhaften Ausdruck; sie basierte vielmehr auf einer in der
Kunsttheorie bis dahin einmaligen Auslegung der fünf Platonischen Körper.
68 [PLATON], II dialogo di Platone, intitolato il Timeo, overo della natura del mondo, tradotto di
lingua greca in italiana da M. Sebastiano Erizzo [hrsg. v. Girolamo Ruscelli], Venedig 1558,
c.l7v-18r.
 
Annotationen