VITRUVSTUDIEN UND VITRUVAUSGABEN
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an Vitruv neben philologischen und technischen Details auch den Fragen der
bildenden Kunst und Architektur galt.7 Andere Vitruvstudien, die ver-
schiedenste Gesichtspunkte umfassen konnten, finden sich in den Enzyklo-
pädien Giorgio Vallas8 und Roberto Maffeis9, in den rechtsgeschichtlichen
Arbeiten Guillaume Budes10 sowie in Pellegrino Priscianos Auseinandersetzung
mit dem griechischen und römischen Theater.11 All diese Studien haben
allerdings kaum eine Verbindung zu der auf eine praktische Umsetzung
gerichteten Vitruvlektüre der Künstler und Architekten des Quattrocento.
Lediglich im Kreise Raffaels scheint es eine Zusammenarbeit zwischen
Künstlern und Humanisten gegeben zu haben, die über jenes für Francesco di
Giorgio und Filarete anzunehmende Maß hinausging und zur ersten
vollständigen Übersetzung Vitruvs in eine Volkssprache führte.12 Eine frühere,
erst kürzlich publizierte Übersetzung wurde für Francesco di Giorgio Martini
angefertigt13, und ein weiteres Projekt dieser Art begann auch Antonio da
Sangallo d. J. (1483-1546) gegen Ende seiner Karriere.14
Ein jüngeres Mitglied derselben Familie, nämlich Giovanni Battista da
Sangallo, genannt il Gobbo (1496-1552), hatte sich ebenfalls mit Vitruv
beschäftigt; wahrscheinlich zwischen 1511 und 1521 stattete er seine Vi-
truvausgabe, die editio princeps von 1486, mit einer Vielzahl bisweilen kom-
mentierter Skizzen aus, und auf zwei gesondert eingefügten Blättern finden sich
insgesamt drei Zeichnungen zu Vitruvs Proportionsfigur.15 In Anspielung auf
den homo ad quadratum beginnt er mit der Studie eines aufrecht stehenden und
den linken Arm ausstreckenden Mannes, dessen Körperlänge gleichzeitig in 4
cubiti und in 100 digiti unterteilt ist (Abb. 14). Die Vierteilung der Körperachse
steht im Einklang mit den Angaben in De architectura, doch Sangallos 100
digiti widersprechen dem metrologischen System Vitruvs, das stattdessen 96
digiti vorsah (vgl. Kap. II). Die Unterteilung Sangallos, die sich auch in der
dann folgenden Profilzeichnung eines ebenfalls aufrecht stehenden Mannes
findet (vgl. Abb. 15), führt zu Proportionen, die einerseits auf Vitruv
zurückgehen, andererseits aber nicht mehr mit dessen System kompatibel sind.
7 Vgl. V. JUREN, Politien et la th^orie des arts figuratifs, in: Biblioth^ue d'humanisme et
Renaissance 37.1975, S.131-140; dens., Politien et Vitruve, in: Rinascimento 18.1978,
S.285-292.
8 GIORGIO VALLA, De expetendis et fugiendis rebus opus, 2Bde., Venedig 1501, Bd.2, Lib.42,
cap.2, fols.LLiiiv-LLiiir.
9 RAFFAELO VOLATERRANO MAFFEIO, Commentariorum urbanorum octo et triginta libri,
Paris 1515 (zuerst 1506), 26, fols.294v-298v.
10 GUILLAUME BUDt, Annotationes in libros Pandectarum, Paris 1508; vgl. V. JUREN, Fra
Giovanni Giocondo et le d6but des 6tudes vitruviennes en France, in: Rinascimento 14.1974,
S.102-115.
11 Vgl. F. MAROTTI, Storia documentaria del teatro italiano. Lo spettacolo dall'umanesimo al
manierismo, Mailand 1974, S.53-77.
12 Vgl. Vitruvio e Raffaello (zit. in Kap. V.2, Anm.15).
13 Vgl. G. SCAGLIA (Hrsg.), Il »Vitruvio magliabechiano« di Francesco di Giorgio Martini,
Florenz 1985; diese Ausgabe lag mir ebensowenig vor wie eine weitere frühe Übersetzung ins
Italienische: Biblioteca del Monasterio del Escorial, Ms. J-II-1; vgl. El Escorial en la Biblioteca
Nacional. Biblioteca Nacional Diciembre 1985 - Enero 1986, o.O. 1985, S.186.
14 Vgl. P. FONTANA, Osservazioni intorno ai rapporti di Vitruvio colla teorica del'architettura
del Rinascimento, in: Miscellanea di storia dell'arte in honore di I. B. Supino, Florenz 1933,
S.305-321, bes. S.314-321; P. BAROCCHI, Scritti d'arte del cinquecento, 3Bde., Mailand/Neapel
1971-1978, Bd.3, S.3029-3031 und S.3581.
15 Rom, Biblioteca Corsiana, Inc. 50 F.I; mir lagen Photographien von Howard Burns vor, die
sich in London, Conway Library, Courtauld Institute, befinden.
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an Vitruv neben philologischen und technischen Details auch den Fragen der
bildenden Kunst und Architektur galt.7 Andere Vitruvstudien, die ver-
schiedenste Gesichtspunkte umfassen konnten, finden sich in den Enzyklo-
pädien Giorgio Vallas8 und Roberto Maffeis9, in den rechtsgeschichtlichen
Arbeiten Guillaume Budes10 sowie in Pellegrino Priscianos Auseinandersetzung
mit dem griechischen und römischen Theater.11 All diese Studien haben
allerdings kaum eine Verbindung zu der auf eine praktische Umsetzung
gerichteten Vitruvlektüre der Künstler und Architekten des Quattrocento.
Lediglich im Kreise Raffaels scheint es eine Zusammenarbeit zwischen
Künstlern und Humanisten gegeben zu haben, die über jenes für Francesco di
Giorgio und Filarete anzunehmende Maß hinausging und zur ersten
vollständigen Übersetzung Vitruvs in eine Volkssprache führte.12 Eine frühere,
erst kürzlich publizierte Übersetzung wurde für Francesco di Giorgio Martini
angefertigt13, und ein weiteres Projekt dieser Art begann auch Antonio da
Sangallo d. J. (1483-1546) gegen Ende seiner Karriere.14
Ein jüngeres Mitglied derselben Familie, nämlich Giovanni Battista da
Sangallo, genannt il Gobbo (1496-1552), hatte sich ebenfalls mit Vitruv
beschäftigt; wahrscheinlich zwischen 1511 und 1521 stattete er seine Vi-
truvausgabe, die editio princeps von 1486, mit einer Vielzahl bisweilen kom-
mentierter Skizzen aus, und auf zwei gesondert eingefügten Blättern finden sich
insgesamt drei Zeichnungen zu Vitruvs Proportionsfigur.15 In Anspielung auf
den homo ad quadratum beginnt er mit der Studie eines aufrecht stehenden und
den linken Arm ausstreckenden Mannes, dessen Körperlänge gleichzeitig in 4
cubiti und in 100 digiti unterteilt ist (Abb. 14). Die Vierteilung der Körperachse
steht im Einklang mit den Angaben in De architectura, doch Sangallos 100
digiti widersprechen dem metrologischen System Vitruvs, das stattdessen 96
digiti vorsah (vgl. Kap. II). Die Unterteilung Sangallos, die sich auch in der
dann folgenden Profilzeichnung eines ebenfalls aufrecht stehenden Mannes
findet (vgl. Abb. 15), führt zu Proportionen, die einerseits auf Vitruv
zurückgehen, andererseits aber nicht mehr mit dessen System kompatibel sind.
7 Vgl. V. JUREN, Politien et la th^orie des arts figuratifs, in: Biblioth^ue d'humanisme et
Renaissance 37.1975, S.131-140; dens., Politien et Vitruve, in: Rinascimento 18.1978,
S.285-292.
8 GIORGIO VALLA, De expetendis et fugiendis rebus opus, 2Bde., Venedig 1501, Bd.2, Lib.42,
cap.2, fols.LLiiiv-LLiiir.
9 RAFFAELO VOLATERRANO MAFFEIO, Commentariorum urbanorum octo et triginta libri,
Paris 1515 (zuerst 1506), 26, fols.294v-298v.
10 GUILLAUME BUDt, Annotationes in libros Pandectarum, Paris 1508; vgl. V. JUREN, Fra
Giovanni Giocondo et le d6but des 6tudes vitruviennes en France, in: Rinascimento 14.1974,
S.102-115.
11 Vgl. F. MAROTTI, Storia documentaria del teatro italiano. Lo spettacolo dall'umanesimo al
manierismo, Mailand 1974, S.53-77.
12 Vgl. Vitruvio e Raffaello (zit. in Kap. V.2, Anm.15).
13 Vgl. G. SCAGLIA (Hrsg.), Il »Vitruvio magliabechiano« di Francesco di Giorgio Martini,
Florenz 1985; diese Ausgabe lag mir ebensowenig vor wie eine weitere frühe Übersetzung ins
Italienische: Biblioteca del Monasterio del Escorial, Ms. J-II-1; vgl. El Escorial en la Biblioteca
Nacional. Biblioteca Nacional Diciembre 1985 - Enero 1986, o.O. 1985, S.186.
14 Vgl. P. FONTANA, Osservazioni intorno ai rapporti di Vitruvio colla teorica del'architettura
del Rinascimento, in: Miscellanea di storia dell'arte in honore di I. B. Supino, Florenz 1933,
S.305-321, bes. S.314-321; P. BAROCCHI, Scritti d'arte del cinquecento, 3Bde., Mailand/Neapel
1971-1978, Bd.3, S.3029-3031 und S.3581.
15 Rom, Biblioteca Corsiana, Inc. 50 F.I; mir lagen Photographien von Howard Burns vor, die
sich in London, Conway Library, Courtauld Institute, befinden.