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KAPITEL IX
1. Cesarianos Comasker Vitruv von 1521
Cesare di Lorenzo Cesariano (1483-1543) war bis zum Umzug Bramantes nach
Rom, 1499, in dessen Mailänder Werkstatt tätig. Nach frühen, vor allem
malerischen und dekorativen Aktivitäten im ersten Jahrzehnt des 16.
Jahrhunderts in Oberitalien folgten später, zwischen 1513 und 1540, eine Reihe
von Aufträgen architektonischer Art, etwa für die Kirche Santa Maria presso
San Celso oder für fortifikatorische Tätigkeiten in Mailand.4 Neben den
Arbeiten als Maler, Dekorateur, Ingenieur und Architekt versah Cesariano 1518
auch eine Aufgabe als Landvermesser in Asti.5 Hierauf bezieht sich Vasaris
Hinweis auf Cesarianos agrimensorische Qualitäten6, für die es im Comasker
Vitruv zahlreiche Belege gibt7; 1533 schließlich wird er als Architekt und
Landvermesser der Stadt Mailand genannt.8 Über seine Ausbildung auf diesem
Gebiet ist allerdings ebenso wenig bekannt wie über seine ersten Erfahrungen in
der Malerei oder in den dekorativen Künsten. Es kann jedoch angenommen
werden, daß Cesarianos Engagement in der Werkstatt Bramantes ein grund-
legendes Training in allgemeinen künstlerischen Techniken umfaßte.
Zusätzliche Qualifikationen in der Malerei und der Architektur verschaffte er
sich seinen eigenen Angaben zufolge auf autodidaktischem Wege und »mit
Gottes Hilfe«.9 Da der reguläre Besuch einer Universität nicht nachweisbar ist,
muß er sich die für seine Vitruvstudien notwendigen linguistischen Fähigkeiten
und eine ebenso unerläßliche literarische Bildung auf ähnliche Weise verschafft
haben. So betrieb er nach eigenem Bekunden mithilfe von Antonio Visconti,
dem Botschafter der Sforza am Hof in Ferrara, private Studien in den mathe-
matischen Wissenschaften, in der Philosophie und in der cosmographia.10 Die
Natur seiner Qualifikationen, deren Vielfältigkeit für einen Künstler des 16.
Jahrhunderts nicht außergewöhnlich war, basierte also auf auf einem hand-
werklich-praktisch fundierten Training traditioneller Art und autodidaktisch
angeeigneter akademischer Bildung.
Cesarianos Vorbereitungen zum Comasker Vitruv müssen schon vor 1513,
dem Jahr seiner Rückkehr nach Mailand, begonnen haben, denn zu diesem
Zeitpunkt gelang es ihm, die von seiner übelmeinenden Stiefmutter gestohlenen
Vitruvstudien zurückzuerlangen.11 Der Großteil der Arbeit dürfte jedoch
zwischen 1517, dem Entstehungsjahr des am frühesten datierten Holzschnitts,
und 1521, dem Jahr des Erscheinens der Vitruvausgabe, zu datieren sein.12
Aufgrund der politischen Wirren in Oberitalien sowie in Anbetracht finanzieller
Schwierigkeiten, die Cesariano zu anderen Tätigkeiten nötigten, ging die Arbeit
4 Vgl. KRINSKY, Cesariano's Vitruvius, S.7; P. VERZONE, Cesare Cesariano, in: Arte
Lombarda 16.1971, S.203-210; S. LUDOVICI, Cesare Cesariano, in: Dizionario biografico degli
Italiani, Bd.24, Rom 1980, S.172-180; GERMANN, Architekturtheorie, S.40-48 (zit. Kap. IV.3).
5 Vgl. CESARIANO, Vitruuio, fol.4r.
6 GIORGIO VASARI, Le vite de' piü eccellenti pittori scultori ed architettori, hrsg. v. G.
Milanesi, Bd.4, Florenz 1879, S.149.
7 CESARIANO, Vitruuio, fols.4r, 48v, 137v-138r und 143v-145r.
8 Vgl. C. H. KRINSKY, Cesare Cesariano and the Como Vitruvius Edition of 1521, Phil.Diss,
New York 1965, S.33.
9 CESARIANO, Vitruuio, fol.91v.
10 Ebd. (zur »cosmographia« vgl. Kap. VII.3).
11 Vgl. CESARIANO, Vitruuio, fol.91v.
12 Vgl. KRINSKY, Cesariano's Vitruvius, S.9.
KAPITEL IX
1. Cesarianos Comasker Vitruv von 1521
Cesare di Lorenzo Cesariano (1483-1543) war bis zum Umzug Bramantes nach
Rom, 1499, in dessen Mailänder Werkstatt tätig. Nach frühen, vor allem
malerischen und dekorativen Aktivitäten im ersten Jahrzehnt des 16.
Jahrhunderts in Oberitalien folgten später, zwischen 1513 und 1540, eine Reihe
von Aufträgen architektonischer Art, etwa für die Kirche Santa Maria presso
San Celso oder für fortifikatorische Tätigkeiten in Mailand.4 Neben den
Arbeiten als Maler, Dekorateur, Ingenieur und Architekt versah Cesariano 1518
auch eine Aufgabe als Landvermesser in Asti.5 Hierauf bezieht sich Vasaris
Hinweis auf Cesarianos agrimensorische Qualitäten6, für die es im Comasker
Vitruv zahlreiche Belege gibt7; 1533 schließlich wird er als Architekt und
Landvermesser der Stadt Mailand genannt.8 Über seine Ausbildung auf diesem
Gebiet ist allerdings ebenso wenig bekannt wie über seine ersten Erfahrungen in
der Malerei oder in den dekorativen Künsten. Es kann jedoch angenommen
werden, daß Cesarianos Engagement in der Werkstatt Bramantes ein grund-
legendes Training in allgemeinen künstlerischen Techniken umfaßte.
Zusätzliche Qualifikationen in der Malerei und der Architektur verschaffte er
sich seinen eigenen Angaben zufolge auf autodidaktischem Wege und »mit
Gottes Hilfe«.9 Da der reguläre Besuch einer Universität nicht nachweisbar ist,
muß er sich die für seine Vitruvstudien notwendigen linguistischen Fähigkeiten
und eine ebenso unerläßliche literarische Bildung auf ähnliche Weise verschafft
haben. So betrieb er nach eigenem Bekunden mithilfe von Antonio Visconti,
dem Botschafter der Sforza am Hof in Ferrara, private Studien in den mathe-
matischen Wissenschaften, in der Philosophie und in der cosmographia.10 Die
Natur seiner Qualifikationen, deren Vielfältigkeit für einen Künstler des 16.
Jahrhunderts nicht außergewöhnlich war, basierte also auf auf einem hand-
werklich-praktisch fundierten Training traditioneller Art und autodidaktisch
angeeigneter akademischer Bildung.
Cesarianos Vorbereitungen zum Comasker Vitruv müssen schon vor 1513,
dem Jahr seiner Rückkehr nach Mailand, begonnen haben, denn zu diesem
Zeitpunkt gelang es ihm, die von seiner übelmeinenden Stiefmutter gestohlenen
Vitruvstudien zurückzuerlangen.11 Der Großteil der Arbeit dürfte jedoch
zwischen 1517, dem Entstehungsjahr des am frühesten datierten Holzschnitts,
und 1521, dem Jahr des Erscheinens der Vitruvausgabe, zu datieren sein.12
Aufgrund der politischen Wirren in Oberitalien sowie in Anbetracht finanzieller
Schwierigkeiten, die Cesariano zu anderen Tätigkeiten nötigten, ging die Arbeit
4 Vgl. KRINSKY, Cesariano's Vitruvius, S.7; P. VERZONE, Cesare Cesariano, in: Arte
Lombarda 16.1971, S.203-210; S. LUDOVICI, Cesare Cesariano, in: Dizionario biografico degli
Italiani, Bd.24, Rom 1980, S.172-180; GERMANN, Architekturtheorie, S.40-48 (zit. Kap. IV.3).
5 Vgl. CESARIANO, Vitruuio, fol.4r.
6 GIORGIO VASARI, Le vite de' piü eccellenti pittori scultori ed architettori, hrsg. v. G.
Milanesi, Bd.4, Florenz 1879, S.149.
7 CESARIANO, Vitruuio, fols.4r, 48v, 137v-138r und 143v-145r.
8 Vgl. C. H. KRINSKY, Cesare Cesariano and the Como Vitruvius Edition of 1521, Phil.Diss,
New York 1965, S.33.
9 CESARIANO, Vitruuio, fol.91v.
10 Ebd. (zur »cosmographia« vgl. Kap. VII.3).
11 Vgl. CESARIANO, Vitruuio, fol.91v.
12 Vgl. KRINSKY, Cesariano's Vitruvius, S.9.