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CESARE CESARIANO

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an der Vitruvausgabe zunächst nur schleppend voran. Dies änderte sich um das
Jahr 1519, als Cesarianos Produktivität aufgrund der Verbesserung äußerer
Umstände zunahm. Etwa zu diesem Zeitpunkt müssen Aluisio Pirovano und
Agostino Gallo die finanzielle Absicherung des Projekts übernommen und
damit seinen zügigeren Fortschritt ermöglicht haben. Die Wahl der Geldgeber
erwies sich jedoch als unglücklich, denn Cesariano mußte 1521, mitten in der
Arbeit zum neunten Buch, fluchtartig die Stadt verlassen, nachdem sich Mei-
nungsverschiedenheiten mit seinen Partnern nicht hatten beilegen lassen.
Nach eigener Aussage wandte sich Cesariano mit seiner Vitruvausgabe nicht
nur an Gelehrte, sondern auch an jene Laien (idiotae), denen der antike Autor
durch eine kommentierte Übersetzung nähergebracht werden sollte.13 Es
handelte sich hierbei weniger um Architekten, für die der prachtvoll
ausgestattete Foliant zu teuer gewesen sein dürfte, sondern eher um eine zu
Beginn des 16. Jahrhunderts wachsende Zahl von Personen, deren Zeit und
Bildung es erlaubte, einem allgemeinen Interesse an Kunst und Architektur zu
frönen. Diese Kunstliebhaber, denen die Lektüre des oft sehr technischen und in
Latein verfaßten Textes zu beschwerlich oder unmöglich erschien, fanden in
einer volkssprachlichen, illustrierten und kommentierten Vitruvübersetzung die
Befriedigung ihrer dilettantischen Bedürfnisse nach der Kenntnis antiker und
moderner Architektur. Eine solche Käuferschicht für das mit stattlichen 1300
Exemplaren aufgelegten und nicht billigen Buches gab es besonders in
Oberitalien zu Beginn des frühen 16. Jahrhunderts, etwa in einer universitäts-
fernen Stadt wie Mailand.14

2. Zirkel und Richtscheit
Die Motivation für eine intellektuell ambitionierte Vitruvausgabe ergibt sich zu
einem großen Teil aus dem Wunsch ihrer Autors, den Mangel an einer
regulären universitären15 und institutionalisierten Ausbildung wettzumachen.
Cesarianos Vitruvstudien repräsentieren in diesem Zusammenhang also gesell-
schaftliche Ansprüche, etwa wenn er über die Behinderung wissenschaftlicher
Studien durch eine unzureichende soziale Stellung klagt:
Aufgrund dieses Nachsinnens [d.i. über die Frage der Herkunft] habe ich mich
erkühnt, das unzuverlässige Gesicht des Glücks berühren zu wollen, auf daß ich
die großartigen Göttlichen, Herrscher und Prinzen in ihren Plätzen der
Unsterblichkeit erreichen zu können vermöge. Mittels des Ratschlags der Geduld
und der Besonnenheit habe ich mich mit meinen Kommentaren sowie mit Zirkel
und Richtscheit der Kühnheit überantwortet, um so den finsteren Kreisen und
Umtrieben und den Händen der ruchlosen Stiefmutter sowie der Armut zu
entfliehen zu versuchen.16

13 Vgl. VERZONE, Cesariano, S.205.

14 Vgl. KRINSKY, Cesariano and the Como Vitruvius Edition, S.79-81.

15 Vgl. KRINSKY, Cesariano's Vitruvius, S.7; für die gegenteilige Ansicht vgl. TAFURl,
Cesariano e gli studi vitruviani nel Quattrocento, S.387-438, S.408 (zit. Kap. VIII.1, Anm.l).

16 Per la quäle cogitatio[n]e audacame[n]te mi sono exposito a uolere ta[n]gere la co[m]mata
fro[n]te de la Fortuna: acio mi potesse fare p[er]uenire co[n] li maximi Diui & Regi & Pri[njcipi
i[n] le loro sedie de i[m]mortalitate: media[n]te il c[on]silio de la Patie[n]tia &: de la Prude[n]tia
quale mi ha[nn]o dato co[n] q[ue]sti mei co[m]e[n]tarii & co[n] lo circino & regula a la Audatia:
acio che dal tenebroso orbe uti Topa[m] & da le ma[n]e de la Nouerca & Paup[er]tate mi sia
cercato de profugare. CESARIANO, Vitruuio, fol.91v.
 
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