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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0169
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DANIELE BARBARO

159

Damit verbindet Barbaro das aristotelische Prinzip verstandesmäßigen
Hervorbringens und die demonstrative Methodik Galens mit der architek-
turtheoretischen Terminologie Vitruvs.
Barbaros Identifizierung einer im Verstand (mente) des Künstlers ansässigen
forma, die die Materie formt, mit den sechs architektonischen Grundbegriffen
Vitruvs, hat ihren theoretischen Ursprung in der Auffassung des Aristoteles, daß
sowohl das Prinzip (apxn) der Kunst (t&%vt], s.o.) als auch ihre wesenhafte
Form (eiöoc;) als das wesentliche Sein eines Dinges im Hervorbringenden
angesiedelt ist. In diesem Sinne kann gemäß Aristoteles die Baukunst auf
ebensolche Weise die wesenhafte Form (elöog) des Hauses sein wie auch die
Medizin wesenhafte Form der Gesundheit.29 Das von Aristoteles übernommene
und forma genannte Prinzip der wesenhaften Form definiert Barbaro als ein ar-
chitektonisches Konzept, unter dem forma nicht als bestimmtes und imaginäres
Abbild einer im zukünftigen Werk zu realisierenden Form verstanden wird,
sondern als das Konzept selbst. Hieraus folgt für Barbaro schließlich die
Möglichkeit, die Architektur als etwas im Verstände des Architekten prinzipiell
Bestehendes aufzufassen, das erst in zweiter Linie als Produkt aus der Materie
verstanden wird.30 Außerdem begründet das aus dem aristotelischen döo§
abgeleitete Konzept der forma auch, wie diese mit den sechs architektonischen
Grundbegriffen Vitruvs identifiziert werden kann, denn sie ist nicht eine
bestimmte Form im modernen Wortsinn, sondern Ausdruck eines regulierenden
und operativen Prinzips, das der Hervorbringung konkreter architektonischer
Formen vorangeht.
Erst nach der aus dem aristotelischen döog abgeleiteten forma gelangt
Barbaro schließlich zu den konkreten Formen, die gestaltete Wirklichkeit in
Form geformter Materie sein können. Diese Form, die als forma sensibile &
naturale im theoretischen Sinne von der Natur geformte Materie ist, wird in
Gestalt von Baumaterialien wie Holz, Metall und Stein von jener Idee (idea)
und jener Vorstellung (segno) geformt, die sich im Verstand des Künstlers
befinden.31 Die geformte Materie unterliegt also der Komposition, Organisation
und individuellen Gestaltung durch die idea oder den segno. Diese Ideen sind
mit denen identisch, die auch in der wirkenden Kraft (agente) der
nachzuahmenden Natur existieren. Barbaros Bezugnahme auf die idea, allem
Anschein nach in Übereinstimmung mit der aristotelischen Unterscheidung
zwischen Idee (iöea) und wesenhafter Form (etöoe;), steht in der Tradition jener
Autoren, die wie Cicero und Seneca die platonische Ideenlehre im Zusam-
menhang kunsttheoretischer Diskussionen erörtern. Cicero spricht von den
Ideen der Schönheit (species pulchritudinis), von den Ideen der Dinge (formas
rerum)32 sowie von Platons Ideen (iöeai)33, die im Verstand (in mente) des
Künstlers ideale Muster für deren künstlerische Schöpfungen liefern. Seneca
definiert die idea als unsterbliches Muster (exemplar aeternum), das der
Künstler erwägt und das neben der Materie, dem Hervorbringenden (opifex),
der wesenhaften Form (forma, idos) und der Absicht (propositum) die fünfte

29 ARISTOTELES, Metaphysica 7.7. (1032b).

30 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.71.

31 Ebd., S.38.

32 CICERO, Orator 2.8-10.

33 Vgl. PLATON, Republica 6.507b und 6.510b.
 
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