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KAPITEL XI

Ursache (causa) des künstlerischen Schaffens ist.34 Obwohl Beispiele für die
humanistische Rezeption einer kunsttheoretisch diskutablen Ideenlehre bereits
bei Francesco Filelfo gegen Ende des 15.35 sowie bei Tiberio Baccilieri36,
Niccolo Franco37 und Philipp Melanchthon38 in der ersten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts bekannt sind, scheint ihre endgültige Aufnahme in das argumentative
Repertoire der Kunsttheorie erst im Manierismus vollzogen worden zu sein.39
Gemessen an ihrem Umfang und ihrer Argumentationsbreite entwickelt Barbaro
allerdings keine Ideenlehre, die mit derjenigen eines späteren Theoretikers wie
Federico Zuccaro vergleichbar wäre40; er versteht idea vielmehr als ein
zusätzliches und formendes Prinzip, das abstrakter als die forma ist, weil es
über deren konzeptualistischen Charakter einer die konkreten Grundbegriffe der
Baukunst umfassenden Lehre hinausgeht und damit eine mehr theoretische
Konnotation enthält. Die wesenhafte Form repräsentiert also die mit den
konkreten architekturtheoretischen Begriffen verbundene Vorstellung, während
idea das nicht in begrifflichen Kategorien faßbare Prinzip vertritt. Hierbei
scheint das kunsttheoretisch wirksamere Prinzip die forma zu sein, denn sie
umfaßt auch die Proportion, die gleichzeitig den Anforderungen exakter
Wissenschaftlichkeit genügt.41 Neben die wesenhafte Form tritt als eine
vermittelnde Instanz Vitruvs ratiocinatio, die Barbaro in der italienischen
Ausgabe als discorso übersetzt. Während forma die architekturtheoretischen
Grundbegriffe repräsentierte, ist discorso ein Konzept, das mit Geschicklichkeit
(solertia) und Proportion (proportione) das regulative Prinzip jener Grundbe-
griffe mit der operativen Notwendigkeit des architektonischen Werkes (opera,
fabrica) verbindet. Der discorso vermittelt dem Zweck das Prinzip mithilfe des
Mittels, wobei die Kenntnis des Zweckes für das operative Vorgehen (fabricare,
operare) notwendig ist.42 Diese Auffassung eines vermittelnden discorso
entstammt der Bedeutung von Vitruvs ratiocinatio, die als Berechnung der
rationes die Kalkulation von Proportionen impliziert. Die Proportion selbst wird
damit zum Medium, das die Verbindung zwischen Zweck und Prinzip
garantiert; sie macht die intellektuelle Vorstellung der wesenhaften Form
(forma) operabel und gewährleistet die Anwendbarkeit der Theorie in der
Praxis. Damit wird die Proportionslehre Bestandteil eines übergeordneten
kunsttheoretischen Konzepts.

34 SENECA, Epistulae 58.18-19. und 65.3-9; vgl. G. SCARPAT, La lettera 65 di Seneca, Brescia
1965, S.92-95.
35 Vgl. J. KRAYE, Francesco Filelfo's Lost Letter »De Ideis«, in: Journal of the Warburg and
Courtauld Institutes 42.1979, S.236- 249, bes. S.240-241 und 246.
36 TIBERIO BACCILIERI. Mir ist dieser Autor nur aus seiner Nennung bei Niccolo Franco (vgl.
die nächste Anm., dort c.88-89.) bekannt. Es handelt sich wahrscheinlich um TIBERIO
BACCILIERI, Lectura in tres libros de anima et in tractatum Averrois de substantia [...], Pavia
1508.
37 NICCOLO FRANCO, Dialogo dove si ragiona delle bellezze, Venedig 1542, c.88.
38 Vgl. E. PANOFSKY, Idea, S.4 und S.73.
39 Vgl. ebd., pass.
40 FEDERICO ZUCCARO, L'Idea de' pittori, scultori ed architetti, Turin 1607 (Nachdruck
Florenz 1961), 1, S.34-45; vgl. Panofsky, Idea, S.47-56.
41 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.34.
42 Ebd., S.9-10.
 
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