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DANIELE BARBARO

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baugeometrischen Hintergrund der Vitruvischen Figuren. Dieser Mangel war
einesteils auf den ursprünglich korrupten und in den zeitgenössischen Ausgaben
von De architectura nicht zufriedenstellend emendierten Text zurückzuführen,
anderenteils aber auf die spezifischen Standpunkte der einzelnen
Kommentatoren. So artikulierte Philandrier mit seiner antiquarischen
Herangehensweise ein Architekturverständnis, in dem eine wie auch immer
ausgedrückte Proportionstheorie keinen ästhetisch bestimmenden Stellenwert
hatte. Demgegenüber vertrat Barbaro eine Auffassung, deren zentraler Punkt
eine elaborierte und musikalisch definierte Proportionstheorie war. Wiederum
völlig andere, nämlich praktische Vorstellungen, verband Cesare Cesariano mit
der Vitruvischen Proportionsfigur; er kam damit dem ursprünglichen Sinn des
erläuterten Textes am nächsten.
Ausgehend von der Erläuterung der Vitruvischen Proportionsfigur wurde am
Beispiel von Cesariano einerseits und Barbaro andererseits zu zeigen versucht,
auf welche Weise Architektur theoretisch »bedeutet« werden kann. Cesariano
verbindet seine Vorstellungen von anthropomorphen Standardmaßen und
praktischer Baugeometrie mit den Ausführungen Vitruvs, und das »Bedeuten«
(significare) geschieht mittels der Architekturzeichnung, die das Produkt der
mit Maß und Geometrie vorgenommenen Prozesse ist. Barbaro andererseits
»bedeutet« Architektur mit der wesenhaften Form (forma), als deren sichtbares
und mitteilbares Medium die aus der musikalischen Harmonie entwickelte Pro-
portion dient. Cesariano und Barbaro repräsentieren in einem idealtypischen
und hypothetischen Modell die Positionen von Auftraggeber und ausführendem
Architekten, in dem der Eine die Proportion als ein theoretisches Prinzip
begreift und der Andere sie als ein praktisch notwendiges Konzept versteht. Der
antiquarisch an der Antike interessierte Kleriker Philandrier hält in diesem
Modell als architektonisch kompetenter Verwalter die Mitte zwischen
Auftraggeber und ausführenden Bauleuten. Seine Skepsis gegenüber dem
Anthropomorphismus sowie sein Desinteresse an einer bedeutungsschwangeren
Proportionstheorie sollte daran erinnern, daß eine theoretische Proportionslehre
nicht die einzige Möglichkeit ist, architektonische Vorstellungen zu
formulieren.

6. Nachbemerkung
In einer nicht architekturtheoretischen Quelle des späten 15. Jahrhunderts, in
Rudolf Agricolas zuerst 1515 erschienener De inventione dialectica, findet sich
tatsächlich die Beschreibung eines logisch bestimmten Modells architek-
tonischer Kommunikation. Agricola schreibt, daß der Architekt zwar über die
Ausführung der von den Handwerkern geleisteten Arbeit bestimme, aber
bezüglich des Gebäudes und seines Auftraggebers - also hinsichtlich von Zweck
(fine) und Ursache (causa efficiens) - ebenso ein Medium (medium) sei wie die
Handwerker (fabri) und ihre Werkzeuge.73
73 RUDOLPH AGRICOLA, De inventione dialectica, Köln 1523 (Nachdruck Frankfurt/M. 1967),
S.80-81 und 88-89; vgl. M. BAXANDALL, Rudolph Agricola on Patrons Efficient and Patrons
Final: A Renaissance Discrimination, in: Burlington Magazine 124.1982, S.424-425.
 
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