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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0187
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FRANCESCO GIORGI

177

seiner knappen Darstellung der kabbalistischen Methoden einen Menschen aus
Fleisch und Blut, einen himmlischen und schließlich einen archetypischen
Menschen, der ebenfalls auf die Adam-Kadmon-Vorstellung zurückgehen
dürfte.41
Mit der Auslegung der Rolle Christi als mediator hominum et Dei steht
Giorgi zwar in Übereinstimmung mit genuin christlichen Anschauungen, doch
gleichzeitig war die Idee von der Erlösung des Menschen durch den Heiland
auch der jüdischen Tradition verpflichtet. Die Deanthropomorphisierung Gottes
und das Wachsen seiner transzendenten Natur bedeutete für die späte jüdische
Welt (etwa um die Zeitwende) die Notwendigkeit intermediärer Stadien
zwischen Schöpfer und Schöpfung, Gott und Mensch. Diese Stadien,
Emanationen von Gott und seiner Macht, waren in der kabbalistischen
Emanationstheorie die Sephiroth, die sowohl den Weg vom Menschen zu Gott
als auch denjenigen der Macht Gottes zu ihren irdischen Auswirkungen
ermöglichte. Nach kabbalistischer Auffassung kann der Schöpfer die Welt nicht
direkt erschaffen haben, denn dann wäre sie, was sie nicht ist, nämlich
unendlich und perfekt wie Gott selbst. Daraus folgt die Notwendigkeit der zehn
Emanationen der Sephiroth, die schließlich den archetypischen Menschen,
Adam Kadmon, formen. Vor dem Hintergrund dieser Tradition und den durch
die jüdische Kommune in Venedig vertretenen messianistischen Konzepten42
wird Giorgis Betonung der Bedeutung Christi und seine besondere Auslegung
eines vor der Weltschöpfung existierenden Mikrokosmos verständlich. Denn
beide Vorstellungen, sowohl die vom Christus als mediator hominum et Dei als
auch die vom Adam Kadmon als Gott und Mensch verbindenden Mikrokosmos,
sind Bestandteile derselben kabbalistischen Lösung des Problems, wie die
intermediären Stadien zwischen dem deanthropomorphisierten Schöpfer und
seinem Geschöpf konstituiert werden können. Die Verbindung pythagoräisch-
platonischer Zahlenharmonie mit kabbalistischen Anschauungen schließlich ist
nicht Giorgis ureigenste Idee, sondern schon bei Reuchlin vorformuliert, der
den Ursprung pythagoräischer Zahlenmystik ohnehin für kabbalistisch hielt.43
5. Mikrokosmos
Giorgi erörtert den Mikrokosmos besonders ausführlich an zwei verschiedenen,
in jeweils unterschiedlichem Kontext stehenden Stellen. Die erste Erörterung
findet sich im sechsten Ton des ersten Gesanges als Teil einer Beschreibung,
wie der Archetypus mit den sichtbaren, unsichtbaren, niederen und höheren
Dingen verbunden sei. Giorgi diskutiert diese Verbindung zwischen allen
Dingen und Gott als Abstieg von und Aufstieg zu Gott, d.h. als eine Bewegung,
die zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Dieser Darstellungsmodus wird
einesteils in der perfekten Oktave des ersten Gesangs (und der beiden
folgenden), andernteils aber in den Figuren von Kugel und Kreis ausgedrückt,
die sowohl Gott als auch den Menschen symbolisieren können. Giorgi beginnt

41 PAULUS RICIUS, In cabalistarum seu allegorizantium eruditionem isagogae, Augsburg 1515,
fol.6r, Nr. 26; vgl. BLAU, Christian Interpretation, S.70.

42 Vgl. VASOLI, Profezia e ragione, S.154.

43 REUCHLIN, De arte cabalistica, fols.22vA, 27v, 51v; vgl. MAHNKE, Unendliche Sphäre,
S.118-119; L. SPITZ, Reuchlin's Philosophy: Pythagoras and Cabala for Christ, in: Archiv für
Reformationsgeschichte 47.1956, S.1-20, S.6-7; BLAU, Christian Interpretation, S.31-32.
 
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