FRANCESCO GIORGI
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Mittelalter von Alanus ab Insulis49, Bonaventura50, Thomas Aquinas51 und
Bartholomaeus Anglicus52 rezipiert und hat vermutlich auch Nikolaus von Kues
angeregt.53 Giorgis Auffassung ist jedoch von all jenen Formulierungen
verschieden; denn die mittelalterlichen Autoren - und auch Nikolaus von Kues -
gehen in ihrer Argumentation nicht soweit, die Figur des Kreises und ihre
Beziehung zur intelligiblen Sphäre Gottes als eine auch körperlich ausdrückbare
Bewegung zum Archetypus zu interpretieren. Diese Anerkennung eines
physisch anschaulichen Strebens zu Gott geht allem Anschein nach auf den von
Giorgi häufig zitierten Plotin zurück, der in seiner Polemik gegen die Gnostiker
die erste Interpretation der sphaera intelligibilis überhaupt lieferte und dort
empfiehlt, in der Figur des Kreises die körperliche Schönheit als Abbild der
geistigen zu akzeptieren.54 Diesen Gedanken schließlich konnte Giorgi mit der
Anschauung vom Menschen als Mikrokosmos verbinden, denn der sowohl
himmlische als auch irdische, körperliche als auch unkörperliche Dinge
umfassende Mikrokosmos repräsentiert einen zentralen Teil der Argumentation,
wie der Mensch zu Gott aufsteigen könne. Gleichzeitig ist die gesamte
Darstellung des Menschen und seiner im Kreis ausdrückbaren Gottähnlichkeit
sowie sein durch dieselbe Figur veranschaulichtes Streben zu Gott55 die
folgerichtige Erfüllung des in seiner Gesamtstruktur ähnlich angelegten
oktavischen Gesangs; denn auch hier, in der vollendeten Oktave, fallen Anfang
und Ende zusammen. Der bei Vitruv beschriebene homo ad circulum wird nicht
ausdrücklich erwähnt, sondern nur indirekt angezeigt, wenn Giorgi, ohne eine
Quelle zu nennen, einfließen läßt, daß einige Autoren unrichtigerweise den
Nabel als Zentrum des Körpers angegeben hätten. Er gebraucht diese Figur also
keineswegs im Sinne einer bei Vitruv gegebenenfalls implizierten symbolischen
Bedeutung. Als Bestandteil des Arguments, wie die menschliche Physis zur
perfekten Sphäre Gottes streben kann, wird der homo ad circulum zu einer
lediglich physiologischen und zudem für falsch befundenen Angabe. Die
inhaltliche Diskussion der Kreisähnlichkeit des Menschen entstammt Ploti-
nischen Anschauungen und sie basiert - wie Giorgi ausdrücklich schreibt - auf
dem erwähnten pseudo-hermetischen Traktat sowie auf Lactantius.
Die Annahme, daß der homo ad circulum Vitruvs im 16. Jahrhundert eine der
heutigen vergleichbare Popularität und Ausdruckskraft gehabt habe, ist nicht
nur aufgrund der oben erläuterten inhaltlichen Zusammenhänge zweifelhaft.
Giorgi spricht ausdrücklich von »einigen« (secundum aliquos), gemäß deren
Urteil der Nabel Mittelpunkt des Körpers sei. Nach dieser Diktion ist Vitruvs
homo ad circulum nicht unbedingt als einmalige und besonders symbolkräftige
49 ALANUS AB INSULIS, Theologicae regulae 7, PL210, Sp.627.
50 BONAVENTURA, Itinerarium mentis in Deum 5.8.; vgl. BONAVENTURA, Tria opuscula,
Florenz 1938, S.337.
51 THOMAS AQUINAS, Quaestiones disputatae de veritate 2.3.11., hrsg. v. P. Mandonnet,
3Bde., Paris 1925, Bd.l, S.40.
52 BARTHOLOMAEUS ANGLICUS, De proprietatibus rerum 1.16., Frankfurt 1601, S.12.
53 NIKOLAUS VON KUES, De docta ignorantia 1.12-13.; vgl. NIKOLAUS VON KUES,
Philosophisch-theologische Schriften, hrsg. u. übers, v. L. Gabriel, 3Bde., Wien 1964-1967,
S.232-234, und MAHNKE, Unendliche Sphäre, S.106-107.
54 PLOTIN, [Enneades] 2.9.17., in: Plotins Schriften, hrsg. u. übers, v. R. Harder, 5Bde., Leipzig
1930-1937, Bd.3, S.154-158, und S.420; ders., De rebus philosophicis libri LIII in enneades sex
distributi, übers, v. M. Ficino, Basel 1559, fo!.116r-v; vgl. auch MAHNKE, Unendliche Sphäre,
S.68, 119; REUCHLIN, De arte cabalistica, fol.21r.
55 Vgl. z.B. GIORGI, De harmonia mundi 3.6.1., fol.56r; I.6.2., fol.l00v.
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Mittelalter von Alanus ab Insulis49, Bonaventura50, Thomas Aquinas51 und
Bartholomaeus Anglicus52 rezipiert und hat vermutlich auch Nikolaus von Kues
angeregt.53 Giorgis Auffassung ist jedoch von all jenen Formulierungen
verschieden; denn die mittelalterlichen Autoren - und auch Nikolaus von Kues -
gehen in ihrer Argumentation nicht soweit, die Figur des Kreises und ihre
Beziehung zur intelligiblen Sphäre Gottes als eine auch körperlich ausdrückbare
Bewegung zum Archetypus zu interpretieren. Diese Anerkennung eines
physisch anschaulichen Strebens zu Gott geht allem Anschein nach auf den von
Giorgi häufig zitierten Plotin zurück, der in seiner Polemik gegen die Gnostiker
die erste Interpretation der sphaera intelligibilis überhaupt lieferte und dort
empfiehlt, in der Figur des Kreises die körperliche Schönheit als Abbild der
geistigen zu akzeptieren.54 Diesen Gedanken schließlich konnte Giorgi mit der
Anschauung vom Menschen als Mikrokosmos verbinden, denn der sowohl
himmlische als auch irdische, körperliche als auch unkörperliche Dinge
umfassende Mikrokosmos repräsentiert einen zentralen Teil der Argumentation,
wie der Mensch zu Gott aufsteigen könne. Gleichzeitig ist die gesamte
Darstellung des Menschen und seiner im Kreis ausdrückbaren Gottähnlichkeit
sowie sein durch dieselbe Figur veranschaulichtes Streben zu Gott55 die
folgerichtige Erfüllung des in seiner Gesamtstruktur ähnlich angelegten
oktavischen Gesangs; denn auch hier, in der vollendeten Oktave, fallen Anfang
und Ende zusammen. Der bei Vitruv beschriebene homo ad circulum wird nicht
ausdrücklich erwähnt, sondern nur indirekt angezeigt, wenn Giorgi, ohne eine
Quelle zu nennen, einfließen läßt, daß einige Autoren unrichtigerweise den
Nabel als Zentrum des Körpers angegeben hätten. Er gebraucht diese Figur also
keineswegs im Sinne einer bei Vitruv gegebenenfalls implizierten symbolischen
Bedeutung. Als Bestandteil des Arguments, wie die menschliche Physis zur
perfekten Sphäre Gottes streben kann, wird der homo ad circulum zu einer
lediglich physiologischen und zudem für falsch befundenen Angabe. Die
inhaltliche Diskussion der Kreisähnlichkeit des Menschen entstammt Ploti-
nischen Anschauungen und sie basiert - wie Giorgi ausdrücklich schreibt - auf
dem erwähnten pseudo-hermetischen Traktat sowie auf Lactantius.
Die Annahme, daß der homo ad circulum Vitruvs im 16. Jahrhundert eine der
heutigen vergleichbare Popularität und Ausdruckskraft gehabt habe, ist nicht
nur aufgrund der oben erläuterten inhaltlichen Zusammenhänge zweifelhaft.
Giorgi spricht ausdrücklich von »einigen« (secundum aliquos), gemäß deren
Urteil der Nabel Mittelpunkt des Körpers sei. Nach dieser Diktion ist Vitruvs
homo ad circulum nicht unbedingt als einmalige und besonders symbolkräftige
49 ALANUS AB INSULIS, Theologicae regulae 7, PL210, Sp.627.
50 BONAVENTURA, Itinerarium mentis in Deum 5.8.; vgl. BONAVENTURA, Tria opuscula,
Florenz 1938, S.337.
51 THOMAS AQUINAS, Quaestiones disputatae de veritate 2.3.11., hrsg. v. P. Mandonnet,
3Bde., Paris 1925, Bd.l, S.40.
52 BARTHOLOMAEUS ANGLICUS, De proprietatibus rerum 1.16., Frankfurt 1601, S.12.
53 NIKOLAUS VON KUES, De docta ignorantia 1.12-13.; vgl. NIKOLAUS VON KUES,
Philosophisch-theologische Schriften, hrsg. u. übers, v. L. Gabriel, 3Bde., Wien 1964-1967,
S.232-234, und MAHNKE, Unendliche Sphäre, S.106-107.
54 PLOTIN, [Enneades] 2.9.17., in: Plotins Schriften, hrsg. u. übers, v. R. Harder, 5Bde., Leipzig
1930-1937, Bd.3, S.154-158, und S.420; ders., De rebus philosophicis libri LIII in enneades sex
distributi, übers, v. M. Ficino, Basel 1559, fo!.116r-v; vgl. auch MAHNKE, Unendliche Sphäre,
S.68, 119; REUCHLIN, De arte cabalistica, fol.21r.
55 Vgl. z.B. GIORGI, De harmonia mundi 3.6.1., fol.56r; I.6.2., fol.l00v.