I. RUDOLF WITTKOWER: ARCHITECTURAL PRINCIPLES
Das symbolische Verständnis1 der Proportionsfigur Vitruvs, das kaum noch eine
Unterscheidung zwischen ihren historisch zurückliegenden Interpretationen
einerseits und gegenwärtigen Auffassungen andererseits zuläßt, beruht nicht
allein auf den architekturtheoretischen Thesen Rudolf Wittkowers; es wurzelt
ebenso im allgemeinen Reiz anthropomorphistischer Spekulationen und in
wissenschaftlichen Ansätzen einer seit Beginn dieses Jahrhunderts entwickelten
Form der Kulturgeschichtsschreibung, als deren Exponenten so unterschiedliche
Gelehrte wie Aby Warburg, Erwin Panofsky und Edgar Wind gelten. Die von
Wittkower besonders prägnant vorgetragene und seitdem oft wiederholte Identi-
fizierung des homo vitruvianus mit einer metaphysischen Architekturtheorie
und Proportionslehre steht in einem Zusammenhang, der heute methodisch mit
einer »Ikonologie« genannten Bedeutungsforschung und wissenschaftsge-
schichtlich mit der »Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg« in Verbin-
dung gebracht wird.2 Dem Versuch einer Rekonstruktion dieses Zusammen-
hangs, sofern er Wittkowers Inhaltsbestimmung der Proportionsfigur Vitruvs
betrifft, und der Diskussion anthropomorphistischer Spekulationen ist das fol-
gende Kapitel gewidmet.
1. Wittkower und das Warburg Institute
Rudolf Wittkower war zusammen mit Edgar Wind Gründer und Herausgeber
des später als Journal of the Warburg and Courtauld Institutes bekannten
Periodikums, dessen erstes Heft im Juli 1937 erschien.3 In den ersten Ausgaben
- auf der Innenseite des vorderen Umschlagblattes - bekennen sich die
Herausgeber programmatisch zu einer Kulturwissenschaft im Sinne Warburgs,
die im besonderen die Erforschung des Nachlebens klassischer Elemente in der
Geschichte von Religion, Gesellschaftsleben, Kunst, Wissenschaft und Literatur
1 Eine Diskussion des Symbolbegriffs oder der »symbolischen Formen« Ernst Cassirers kann hier
nicht geleistet werden; zur Einführung vgl. L. DITTMANN, Stil. Symbol. Struktur. Studien zu
Kategorien der Kunstgeschichte, München 1967; G. POCHAT, Der Symbolbegriff in der
Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983; Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und
Mythologie 1.1968-18.1986.
2 Zur Ikonologie vgl. E. PANOFSKY, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the
Renaissance, New York/Evanston 1962 (zuerst New York 1939), bes. S.3-31; C. GILBERT, On
Subject and Non-Subject in Renaissance Pictures, in: Art Bulletin 34.1952, S.202-216; W. S.
HECKSCHER The Genesis of Iconology, in: Stil und Überlieferung in der Kunst des
Abendlandes. Akten des 21. internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964,
3Bde., Berlin 1967, Bd.3, S.239-262; E. H. GOMBRICH, Symbolic Images. Studies in the
Renaissance II, 3.Aufl., Oxford 1985 (zuerst 1972), bes. S.1-22; E. KAEMMERLING (Hrsg.),
Ikonographie und Ikonologie. Theorien - Entwicklung - Probleme. Bildende Kunst als Zeichen-
system. Band 1, Köln 1979; H. BELTING, Das Ende der Kunstgeschichte?, München 1983, S.25;
J. K. EBERLEIN, Inhalt und Gehalt. Die ikonographisch-ikonologische Methode, in: Kunst-
geschichte. Eine Einführung. Herausgegeben von Hans Belting, Heinrich Dilly etc., Berlin 1986,
S.164-185; zum Warburg Institute s.u.
3 Journal of the Warburg Institute, volume 1, 1937, Number 1, July 1, published by The Warburg
Institute. Editors: Edgar Wind and Rudolf Wittkower.
Das symbolische Verständnis1 der Proportionsfigur Vitruvs, das kaum noch eine
Unterscheidung zwischen ihren historisch zurückliegenden Interpretationen
einerseits und gegenwärtigen Auffassungen andererseits zuläßt, beruht nicht
allein auf den architekturtheoretischen Thesen Rudolf Wittkowers; es wurzelt
ebenso im allgemeinen Reiz anthropomorphistischer Spekulationen und in
wissenschaftlichen Ansätzen einer seit Beginn dieses Jahrhunderts entwickelten
Form der Kulturgeschichtsschreibung, als deren Exponenten so unterschiedliche
Gelehrte wie Aby Warburg, Erwin Panofsky und Edgar Wind gelten. Die von
Wittkower besonders prägnant vorgetragene und seitdem oft wiederholte Identi-
fizierung des homo vitruvianus mit einer metaphysischen Architekturtheorie
und Proportionslehre steht in einem Zusammenhang, der heute methodisch mit
einer »Ikonologie« genannten Bedeutungsforschung und wissenschaftsge-
schichtlich mit der »Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg« in Verbin-
dung gebracht wird.2 Dem Versuch einer Rekonstruktion dieses Zusammen-
hangs, sofern er Wittkowers Inhaltsbestimmung der Proportionsfigur Vitruvs
betrifft, und der Diskussion anthropomorphistischer Spekulationen ist das fol-
gende Kapitel gewidmet.
1. Wittkower und das Warburg Institute
Rudolf Wittkower war zusammen mit Edgar Wind Gründer und Herausgeber
des später als Journal of the Warburg and Courtauld Institutes bekannten
Periodikums, dessen erstes Heft im Juli 1937 erschien.3 In den ersten Ausgaben
- auf der Innenseite des vorderen Umschlagblattes - bekennen sich die
Herausgeber programmatisch zu einer Kulturwissenschaft im Sinne Warburgs,
die im besonderen die Erforschung des Nachlebens klassischer Elemente in der
Geschichte von Religion, Gesellschaftsleben, Kunst, Wissenschaft und Literatur
1 Eine Diskussion des Symbolbegriffs oder der »symbolischen Formen« Ernst Cassirers kann hier
nicht geleistet werden; zur Einführung vgl. L. DITTMANN, Stil. Symbol. Struktur. Studien zu
Kategorien der Kunstgeschichte, München 1967; G. POCHAT, Der Symbolbegriff in der
Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983; Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und
Mythologie 1.1968-18.1986.
2 Zur Ikonologie vgl. E. PANOFSKY, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the
Renaissance, New York/Evanston 1962 (zuerst New York 1939), bes. S.3-31; C. GILBERT, On
Subject and Non-Subject in Renaissance Pictures, in: Art Bulletin 34.1952, S.202-216; W. S.
HECKSCHER The Genesis of Iconology, in: Stil und Überlieferung in der Kunst des
Abendlandes. Akten des 21. internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964,
3Bde., Berlin 1967, Bd.3, S.239-262; E. H. GOMBRICH, Symbolic Images. Studies in the
Renaissance II, 3.Aufl., Oxford 1985 (zuerst 1972), bes. S.1-22; E. KAEMMERLING (Hrsg.),
Ikonographie und Ikonologie. Theorien - Entwicklung - Probleme. Bildende Kunst als Zeichen-
system. Band 1, Köln 1979; H. BELTING, Das Ende der Kunstgeschichte?, München 1983, S.25;
J. K. EBERLEIN, Inhalt und Gehalt. Die ikonographisch-ikonologische Methode, in: Kunst-
geschichte. Eine Einführung. Herausgegeben von Hans Belting, Heinrich Dilly etc., Berlin 1986,
S.164-185; zum Warburg Institute s.u.
3 Journal of the Warburg Institute, volume 1, 1937, Number 1, July 1, published by The Warburg
Institute. Editors: Edgar Wind and Rudolf Wittkower.