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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0024
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14

KAPITEL I

wissenschaftlers, sondern auch Mittel zur Erkenntnis selbst.29 In diesem Sinne
war eine bildliche Darstellung sowohl der wissenschaftliche Gegenstand des
Kulturhistorikers als auch das Symbol einer geschichtlichen Epoche - etwa
wenn eine Doppelherme des Apollo-Dionysos für Warburg das »Wesen der
Antike« symbolisierte.30 D. h. neben der Bedeutung, die eine Doppel-Herme
für den antiken Betrachter haben konnte, stand eine weitere Bedeutungsebene,
deren Bestimmung dem Historiker obliegt. Diese »symbolische«, vom Kultur-
wissenschaftler rekonstruierte oder auch nur konstituierte Bedeutung mußte
keineswegs mit derjenigen übereinstimmen, die dem antiken Rezipienten
geläufig war.31
Warburgs einleitende Tafeln präsentieren anschauliches Material für eine
veränderliche32 Schau und Interpretation von Geschichte, und zwar einer
Geschichte, die vor dem Subjekt der Gegenwart nicht haltmacht.33 Dieser
erkenntnistheoretisch motivierten Symbolsetzung steht in Warburgs einlei-
tenden Tafeln des Bilderatlas jener »Denkraum« zur Seite34, der sowohl durch
»begrifflich sondernde Bezeichnung«35 als auch durch mythisch-magische
Assoziation entsteht. Damit hat das Denkraum schaffende Symbol, das in der
Polarität zwischen Rationalität und Magie steht36, einesteils die phylogenetische
und erkenntnistheoretische Aufgabe, dem Menschen die rationale Distanz zu
den Objekten seiner Welt zu verschaffen, andernteils aber auch den
psychologischen und ontogenetischen Zweck, dem Individuum den Abstand zur
eigenen Irrationalität zu sichern:
Der Begriff Orientiertung hat fuer Warburg im Anschluss an Kants Aufsatz "Was
heisst sich im Denken orientieren?" sehr allgemeinen Charakter. Er ist ihm der
Ueberbegriff fuer jede bewusste Beziehungnahme des Menschen als eines

29 Grundsätzlich zu Warburgs Symbolbegriffen vgl. DITTMANN, Stil. Symbol. Struktur,
S.95-101; GOMBRICH, Warburg, S.72-76 (F. T. Vischer) und S.260-282; M. PODRO, The
Critical Historians of Art, London 1982, S.174-177; KANY, Mnemosyne, S.142-151.

30 ABY WARBURG, Mnemosyne. Einleitung, C 6: »Um das Wesen der Antike im Symbol einer
Doppel-Herme des Apollo-Dionysos zu erblicken, bedarf es seit Nietzsches Tagen keiner
revolutionierenden Attitüde mehr. Im Gegenteil verhindert eher der oberflaechliche Tages-
gebrauch dieser Gegensaetzlichkeitslehre bei der Betrachtung paganer Kunstgebilde [...], dass
man Sophrosyne und Ekstase vielmehr in der organischen Einheitlichkeit ihrer polaren Funktion
bei der Praegung von Grenzwerten menschlichen Ausdruckswillens begreift.« Zitiert nach der
Kopie einer Umschrift: Mnemosyne. Selected Texts by Aby Warburg in Typescript Prepared by
the Warburg Institute and Sent to Max M. Warburg For His Seventieth Birthday 5 June 1937, S.6,
London, Warburg Institute; ähnlich über Dürers Melencolia I (vgl. WARBURG, Schriften und
Würdigungen, Ed. Wuttke, S.260, Anm.18) und die Beine eines Schwimmers (vgl. GOMBRICH,
Warburg, S.280).

31 Vgl. hierzu Panofskys Ausführungen zur Ikonologie; PANOFSKY, Studies in Iconology, S.8:
»The discovery and interpretation of [...] ’symbolical values' (which are generally unknown to the
artist himself and may even emphatically differ from what he consciously intended to express) is
the object of what we may call 'iconography in a deeper sense'« [d.i. iconology].

32 Vgl. GOMBRICH, Warburg, S.283, und dens., [Rez. zu: M. JESINGHAUSEN-LAUSTER,
Die Suche nach der Symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschatfliche Bibliothek
Warburg, Baden-Baden 1985], in: Kunstchronik 39.1986, S.286-294, S.291.

33 Vgl. KANY, Mnemosyne, S.180.

34 Vgl. ebd., S.147, 160 und S.174-178.

35 A. WARBURG, Gesammelte Schriften, 2Bde, Leipzig/Berlin 1932, Bd.2, S.491; zum
»Denkraum« vgl. GOMBRICH, Warburg, S.208, 214, 220, 224-229 und S.288-290.

36 Vgl. E. WIND, Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik
(1931), in: WÄRBURG, Schriften und Würdigungen, Ed. Wuttke, S.401-417, S.409;
GOMBRICH, Warburg, S.73-75; B. BUSCHENDORF, »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges
Fördern«: Edgar Wind und Aby Warburg, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 4.1985,
S.165-209, S.185.
 
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