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KAPITEL II
1. Metrologie
Metrologie, als die Wissenschaft vom Messen, definiert die Maßeinheiten; diese
sind Teil der Meßkunde (ratio mensurarum), die wiederum, wie der im ersten
nachchristlichen Jahrhundert schreibende Columella betont, für den Architekten
unerläßlich ist.4 Es überrascht daher nicht, daß Vitruv den Kanon menschlicher
Proportionen in antiken Standardmaßen definiert, deren metrologisches System
sich aus den Angaben im Text rekonstruieren läßt. In seiner Darstellung der
ästhetischen und theoretischen Grundbegriffe der Baukunst erklärt Vitruv, daß
die Eurythmie der Gebäude ebenso symmetrisch zu sein habe wie das
Verhältnis der Glieder am menschlichen Körper (I.2.4.). Die Dimensionen
dieser Glieder sind in denselben Standardmaßen, cubitus, pes, palmus und
digitus (Elle, Fuß, Querhand und Fingerbreite), ausgedrückt, die später, im
einleitenden Abschnitt über die Symmetrien der Tempel, spezifiziert werden:
der cubitus sei 1/4 und der pes 1/6 der Körperhöhe des Menschen (3.1.2.). Nach
einer erneuten Betonung der Wichtigkeit anthropomorpher Maße für das
Bauwerk (3.1.5.) und einem Exkurs über das Duodezimalsystem definiert
Vitruv schließlich die Relationen der Maßverhältnisse untereinander. Und zwar
enthalte der cubitus 6 palmi oder 24 digiti, der pes 4 palmi oder 16 digiti und
der palmus 4 digiti (3.1.7-9.). Die einzelnen Dimensionen und ihre Relationen
entsprechen dem System anthropomorpher Metrologie, das in seinen
Grundzügen bis auf babylonische oder frühere Zeiten zurückgeht und bis zur
Einführung des Meters galt. Danach wurden auf die Elle 4 Handbreiten,
anderthalb Fuß, oder 24 Fingerbreiten gerechnet. Wie Vitruv selbst darlegt,
stimmt die anthropomorphe Metrologie in Teilen mit den auf dem
Duodezimalsystem beruhenden Münz- und Gewichtsrechnungen überein
(3.1.5-8.). Hieraus ergibt sich auch die nahe Verwandtschaft der von Vitruv
beschriebenen metrologischen Verhältnisse mit der griechischen Metrologie.
Das gilt etwa für die Sechserteilung der Drachme (3.1.7.) oder für die
Herleitung des palmus aus der griechischen Bezeichnung für die Querhand,
Öcöpov (2.3.3.). Diese Verbindungen zu griechischen Maßverhältnissen
resultieren sowohl aus dem Werdegang Vitruvs, dessen praktische und
theoretische Ausbildung in hellenistischer Architektur wurzelte5, als auch aus
seinen zahlreichen Hinweisen auf die von ihm verwendeten griechischen
Quellen. Obwohl die von Vitruv gleichzeitig beschriebene römische Metrologie
(3.I.6.; 3.1.8.) nicht grundverschieden von der griechischen ist, gibt es
zwischen beiden einige Unterschiede, die in Vitruvs Angaben zu den
anthropomorphen Maßen zur Geltung kommen.
Vitruv bezieht alle in seinem Proportionskanon angegebenen Maße auf die
Höhe des menschlichen Körpers, die identisch mit der Länge der über der Brust
gemessenen ausgestreckten Arme ist. Diese Dimension wurde spätestens seit
ägyptischer Zeit, besonders aber im antiken Griechenland, als ein Standardmaß
aufgefaßt, das unter der Bezeichnung öpyvid (Klafter) der Länge von 6 Fuß
entspricht und in der römischen Metrologie als passus mit einer Länge von 5
römischen statt 6 griechischen Fuß auftaucht.6 Neben weniger gebräuchlichen
4 COLUMELLA, De re rustica 5.1.4.
5 Vgl. F. W. SCHLIKKER, Hellenistische Vorstellungen von der Schönheit des Bauwerks nach
Vitruv, Berlin 1940.
6 Vgl. F. HULTSCH, Griechische und Römische Metrologie, 2.Aufl., Berlin 1882, s.v. orguia.
KAPITEL II
1. Metrologie
Metrologie, als die Wissenschaft vom Messen, definiert die Maßeinheiten; diese
sind Teil der Meßkunde (ratio mensurarum), die wiederum, wie der im ersten
nachchristlichen Jahrhundert schreibende Columella betont, für den Architekten
unerläßlich ist.4 Es überrascht daher nicht, daß Vitruv den Kanon menschlicher
Proportionen in antiken Standardmaßen definiert, deren metrologisches System
sich aus den Angaben im Text rekonstruieren läßt. In seiner Darstellung der
ästhetischen und theoretischen Grundbegriffe der Baukunst erklärt Vitruv, daß
die Eurythmie der Gebäude ebenso symmetrisch zu sein habe wie das
Verhältnis der Glieder am menschlichen Körper (I.2.4.). Die Dimensionen
dieser Glieder sind in denselben Standardmaßen, cubitus, pes, palmus und
digitus (Elle, Fuß, Querhand und Fingerbreite), ausgedrückt, die später, im
einleitenden Abschnitt über die Symmetrien der Tempel, spezifiziert werden:
der cubitus sei 1/4 und der pes 1/6 der Körperhöhe des Menschen (3.1.2.). Nach
einer erneuten Betonung der Wichtigkeit anthropomorpher Maße für das
Bauwerk (3.1.5.) und einem Exkurs über das Duodezimalsystem definiert
Vitruv schließlich die Relationen der Maßverhältnisse untereinander. Und zwar
enthalte der cubitus 6 palmi oder 24 digiti, der pes 4 palmi oder 16 digiti und
der palmus 4 digiti (3.1.7-9.). Die einzelnen Dimensionen und ihre Relationen
entsprechen dem System anthropomorpher Metrologie, das in seinen
Grundzügen bis auf babylonische oder frühere Zeiten zurückgeht und bis zur
Einführung des Meters galt. Danach wurden auf die Elle 4 Handbreiten,
anderthalb Fuß, oder 24 Fingerbreiten gerechnet. Wie Vitruv selbst darlegt,
stimmt die anthropomorphe Metrologie in Teilen mit den auf dem
Duodezimalsystem beruhenden Münz- und Gewichtsrechnungen überein
(3.1.5-8.). Hieraus ergibt sich auch die nahe Verwandtschaft der von Vitruv
beschriebenen metrologischen Verhältnisse mit der griechischen Metrologie.
Das gilt etwa für die Sechserteilung der Drachme (3.1.7.) oder für die
Herleitung des palmus aus der griechischen Bezeichnung für die Querhand,
Öcöpov (2.3.3.). Diese Verbindungen zu griechischen Maßverhältnissen
resultieren sowohl aus dem Werdegang Vitruvs, dessen praktische und
theoretische Ausbildung in hellenistischer Architektur wurzelte5, als auch aus
seinen zahlreichen Hinweisen auf die von ihm verwendeten griechischen
Quellen. Obwohl die von Vitruv gleichzeitig beschriebene römische Metrologie
(3.I.6.; 3.1.8.) nicht grundverschieden von der griechischen ist, gibt es
zwischen beiden einige Unterschiede, die in Vitruvs Angaben zu den
anthropomorphen Maßen zur Geltung kommen.
Vitruv bezieht alle in seinem Proportionskanon angegebenen Maße auf die
Höhe des menschlichen Körpers, die identisch mit der Länge der über der Brust
gemessenen ausgestreckten Arme ist. Diese Dimension wurde spätestens seit
ägyptischer Zeit, besonders aber im antiken Griechenland, als ein Standardmaß
aufgefaßt, das unter der Bezeichnung öpyvid (Klafter) der Länge von 6 Fuß
entspricht und in der römischen Metrologie als passus mit einer Länge von 5
römischen statt 6 griechischen Fuß auftaucht.6 Neben weniger gebräuchlichen
4 COLUMELLA, De re rustica 5.1.4.
5 Vgl. F. W. SCHLIKKER, Hellenistische Vorstellungen von der Schönheit des Bauwerks nach
Vitruv, Berlin 1940.
6 Vgl. F. HULTSCH, Griechische und Römische Metrologie, 2.Aufl., Berlin 1882, s.v. orguia.