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VITRUVS PROPORTIONSFIGUR

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vornehmsten Körperteile, und beide spielen in den bekannten Propor-
tionskanones als Modul eine entscheidende Rolle.14 Außerdem kann man
annehmen, daß bei den archaischen Kouroi, die aufgrund ihrer geraden
Längenachse für dieses Genre außergewöhnlich genaue Messungen erlauben,
Kopf- und eventuell auch Gesichtslängen als Modul dienten.15
Die Kopf- und Gesichtsdimensionen scheinen jedoch auf den ersten Blick
keine Verbindung mit den anderweitig verwendeten und metrologisch
deduzierten Proportionen zu haben, denn sie sind unter einem metrologischen
Gesichtspunkt wertlos. Die Elle etwa eignet sich aus physiologischen Gründen
vorzüglich zur Vermessung von Tuchen und Stoffen, Schrittmaße kommen
besonders für die Bestimmung längerer und Fußmaße für die Ermittlung
kürzerer Strecken infrage. Ähnliches gilt für andere anthropomorphe Maße wie
Spanne oder Fingerbreite, nicht aber für die Dimensionen von Kopf und
Gesicht, die aus physiologischen Gründen metrologisch unpraktikabel sind. Es
gibt jedoch Indizien dafür, daß diese Proportionen trotzdem eine Verbindung
zur Metrologie haben, denn zwei Standardmaße der griechischen Metrologie,
die amOa^ und das 6pi)obpov16, stimmen genau oder annähernd mit Vitruvs
Dimensionen für Kopf und Gesicht überein (vgl. Appendix 2). Die OTtdapriist
als große Handspanne die Entfernung vom Daumen zum Mittelfinger der
gespreizten Hand; sie entspricht wie Vitruvs Proportion für den menschlichen
Kopf einem Achtel des Klafters und entsprang als metrologische Einheit der
messenden Bewegung der gespreizten Hand. Damit paßte sie nicht in ein
System künstlerisch relevanter Proportionen, das auf dem Prinzip
unbeweglicher Meßpunkte wie Kinn und Scheitel beruhte, und auch in einer
bewegten Figur ist die Proportion für eine gespreizte Hand in der Regel
irrelevant. Daher tauschte Vitruv ein Standardmaß, die OTidagif, gegen die
ästhetisch wichtigere Dimension des Kopfes aus, genügte damit den
Anforderungen eines Proportionskanons und verblieb gleichzeitig in jenem
metrologischen System, das die Grundlage seiner Angaben bildete.
Eine ähnliche Herleitung aus der Metrologie gilt auch für die Länge des
Gesichts, die ein Zehntel des mit der Körperhöhe längengleichen Klafters
(öpyvid) beträgt. Der Wert von einem Zehntel als solcher ist eigentlich nicht mit
dem zweiten und in der Metrologie selbst am häufigsten verwendeten System
vereinbar, die Dimension als Vielfaches einer kleineren Einheit auszudrücken.
Wenn man etwa wie Vitruv die öpyuid als die größte und den digitus als die
kleinste Bezugseinheit zugrunde legt, dann ist der zehnte Teil des Klafters ein
rational nicht zu bestimmender Wert zwischen 9 und 10 digiti. Vitruv rettet
jedoch auch für diesen Wert, ein Zehntel, die Verbindung zur Metrologie und
behält gleichzeitig die Einteilung der Körperhöhe in Brüche mit dem Zähler
eins bei. Zu diesem Zweck bezieht er sich auf ein anderes, weniger bekanntes
Standardmaß der griechischen Metrologie, nämlich auf das öpdoöopov, die
aufrechte Hand, die mit seiner Definition der ausgestreckten Hand wörtlich
übereinstimmt. Diese messe man nämlich vom Handgelenk zur Spitze des
Mittelfingers der ausgestreckten Handfläche - manus pansa ab articulo ad

14 Vgl. PANOFSKY, Die Entwicklung der Proportionslehre (zit. in Kap. 1.4).

15 Vgl. L. D. CASKEY, The Proportions of the Apollo of Tenea, in: Journal of the Archaeological
Institute of America 28.1924, S.358-367.

16 Vgl. HULTSCH, Metrologie, S.29-30.
 
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