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KAPITEL III
Spätantike und frühes Mittelalter
Die Rezeptionsgeschichte Vitruvs in der Spätantike, also etwa von Plinius im
ersten bis zu Cassiodorus Senator im sechsten Jahrhundert, zeugt von keinem
homogenen Interesse der einzelnen Rezipienten. Plinius bezieht vor allem
botanische, mineralogische und technische Informationen aus De architectura,
während der Wasserbauingenieur Frontinus ein halbes Jahrhundert später von
einem neuen Röhrensystem berichtet, das - so Frontinus - möglicherweise von
Vitruv inauguriert wurde. Danach taucht Vitruv erst im vierten Jahrhundert
wieder auf, und zwar als Quelle für Cetius Faventinus, dessen Epitome De
diversis fabricis architectonicae zu einem großen Teil aus De architectura
kompiliert ist. Doch Faventinus' Handbuch scheint das einzige spätantike
Zeugnis eines spezifisch architektonischen Interesses an Vitruv gewesen zu
sein, und die Bekanntheit von Vitruv überhaupt muß in dieser Zeit gelitten
haben; denn Palladius' Exzerpte aus De architectura stammen vollständig aus
Faventinus, und der zu Beginn des 5. Jahrhunderts schreibende Grammatiker
Servius benutzt Vitruv nur noch als sprachgeschichtliche Quelle. Später
erwähnt ihn Sidonius Apollinaris als Beispiel eines Architekten, und
Cassiodorus Senator bezieht seine Informationen über die Wassersuche aus De
architectura; Isidor von Sevilla schließlich scheint sich auf Vitruvs Angaben
über das Vorkommen besonderer Hölzer zu stützen. Doch machen diese im
weitesten Sinne technischen Vitruvexzerpte aus seinen De architectura libri
decem keineswegs eine Quelle für die Entwicklung oder Geschichte der
Technik; außerdem fehlen weitere Hinweise dafür, daß Vitruv einen Einfluß auf
die technische Entwicklung der Spätantike oder des Mittelalters gehabt hätte.
Ebensowenig kann Vitruv als ein Gewährsmann für die mathematischen und
geometrischen Kenntnisse in Spätantike und Mittelalter namhaft gemacht
werden. Das belegt etwa die Verbreitung der Schriften von Euklid7 und
Boethius. Als ein Indiz hierfür wäre die Geometrie Gerberts zu nennen8, die,
wie andere geometrische Kompilationen des Mittelalters, keineswegs auf Vitruv
basiert. Und selbst wenn etwa Hermann von Reichenau seine Leser auf die
Beschreibung des Horologiums bei Vitruv verweist, darf man nicht übersehen,
daß er ihn in seinen eigenen Schriften keineswegs heranzieht.9
Eine verifizierbare Bedeutung Vitruvs für die technische Literatur des Mittel-
alters findet sich möglicherweise in einigen Rezeptbüchern (mappae
claviculae), denen De architectura angebunden wurde.10 Daneben hat Heraclius
(vermutlich im 10. Jahrhundert) Vitruvs Rezept für die Herstellung von Ocker
in sein Buch De coloribus et artibus Romanorum übernommen. Doch
zusammengenommen geben die Belege aus der Geschichte von Mathematik
und Technik keine Begründung für die verbreitete Annahme, daß die
technischen und mathematischen Teile von De architectura in der mittelal-
7 Vgl. J. MURDOCH, Euclid: Transmission of the Elements, in: Dictionary of Scientific
Biography, Bd.4, New York 1971, S.437-459.
8 GERBERT, Geometria, PL139, Sp.93-151.
9 HERMANN VON REICHENAU, De mensura astrolabii liber, und De utilitatibus astrolabii libri
duo, PL143, Sp.379-412.
10 Vgl. B. BISCHOFF, Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftenkunde und
Literaturgeschichte, 3Bde., Stuttgart 1966-1981, Bd.3, S.277-297.
KAPITEL III
Spätantike und frühes Mittelalter
Die Rezeptionsgeschichte Vitruvs in der Spätantike, also etwa von Plinius im
ersten bis zu Cassiodorus Senator im sechsten Jahrhundert, zeugt von keinem
homogenen Interesse der einzelnen Rezipienten. Plinius bezieht vor allem
botanische, mineralogische und technische Informationen aus De architectura,
während der Wasserbauingenieur Frontinus ein halbes Jahrhundert später von
einem neuen Röhrensystem berichtet, das - so Frontinus - möglicherweise von
Vitruv inauguriert wurde. Danach taucht Vitruv erst im vierten Jahrhundert
wieder auf, und zwar als Quelle für Cetius Faventinus, dessen Epitome De
diversis fabricis architectonicae zu einem großen Teil aus De architectura
kompiliert ist. Doch Faventinus' Handbuch scheint das einzige spätantike
Zeugnis eines spezifisch architektonischen Interesses an Vitruv gewesen zu
sein, und die Bekanntheit von Vitruv überhaupt muß in dieser Zeit gelitten
haben; denn Palladius' Exzerpte aus De architectura stammen vollständig aus
Faventinus, und der zu Beginn des 5. Jahrhunderts schreibende Grammatiker
Servius benutzt Vitruv nur noch als sprachgeschichtliche Quelle. Später
erwähnt ihn Sidonius Apollinaris als Beispiel eines Architekten, und
Cassiodorus Senator bezieht seine Informationen über die Wassersuche aus De
architectura; Isidor von Sevilla schließlich scheint sich auf Vitruvs Angaben
über das Vorkommen besonderer Hölzer zu stützen. Doch machen diese im
weitesten Sinne technischen Vitruvexzerpte aus seinen De architectura libri
decem keineswegs eine Quelle für die Entwicklung oder Geschichte der
Technik; außerdem fehlen weitere Hinweise dafür, daß Vitruv einen Einfluß auf
die technische Entwicklung der Spätantike oder des Mittelalters gehabt hätte.
Ebensowenig kann Vitruv als ein Gewährsmann für die mathematischen und
geometrischen Kenntnisse in Spätantike und Mittelalter namhaft gemacht
werden. Das belegt etwa die Verbreitung der Schriften von Euklid7 und
Boethius. Als ein Indiz hierfür wäre die Geometrie Gerberts zu nennen8, die,
wie andere geometrische Kompilationen des Mittelalters, keineswegs auf Vitruv
basiert. Und selbst wenn etwa Hermann von Reichenau seine Leser auf die
Beschreibung des Horologiums bei Vitruv verweist, darf man nicht übersehen,
daß er ihn in seinen eigenen Schriften keineswegs heranzieht.9
Eine verifizierbare Bedeutung Vitruvs für die technische Literatur des Mittel-
alters findet sich möglicherweise in einigen Rezeptbüchern (mappae
claviculae), denen De architectura angebunden wurde.10 Daneben hat Heraclius
(vermutlich im 10. Jahrhundert) Vitruvs Rezept für die Herstellung von Ocker
in sein Buch De coloribus et artibus Romanorum übernommen. Doch
zusammengenommen geben die Belege aus der Geschichte von Mathematik
und Technik keine Begründung für die verbreitete Annahme, daß die
technischen und mathematischen Teile von De architectura in der mittelal-
7 Vgl. J. MURDOCH, Euclid: Transmission of the Elements, in: Dictionary of Scientific
Biography, Bd.4, New York 1971, S.437-459.
8 GERBERT, Geometria, PL139, Sp.93-151.
9 HERMANN VON REICHENAU, De mensura astrolabii liber, und De utilitatibus astrolabii libri
duo, PL143, Sp.379-412.
10 Vgl. B. BISCHOFF, Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftenkunde und
Literaturgeschichte, 3Bde., Stuttgart 1966-1981, Bd.3, S.277-297.