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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0063
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VITRUV IN SPÄTANTIKE UND MITTELALTER

53

bezieht sich Wesenberg in seinen Berechnungen auf zwei verschiedene
Gesamthöhen der Figur, einmal mit und einmal ohne das Suppedaneum.
Eine weitere Anwendung der Vitruvischen Proportionsfigur in der Kunst des
Mittelalters finde sich - so die jüngste Argumentation T. Thiemes - im Grundriß
des Klosters von Monte Cassino, der auf den metrologischen Implikationen des
homo ad circulum beruhe und dessen anthropomorphe, aus Vitruv geschöpfte
Grundlagen in mittelalterlichen Quellen verbürgt seien.39 Dies sei um so
wahrscheinlicher, als Petrus Diakonus, der Chronist des Klosters, ein Exzerpt
der Proportionslehre Vitruvs angefertigt und damit den mittelalterlichen
Anthropomorphismus mit dem Entwurfsschema Vitruvs verbunden habe.
Hier beruht bereits die Annahme, daß der Montecassiner Mönch Petrus
Diaconus ein heute verlorenes Exzerpt Vitruvischer Proportionen angefertigt
habe, auf einem bislang unbemerkt gebliebenen Irrtum.40 Aber auch gegenüber
der übrigen Argumentation wäre größere Skepsis angebracht, da die im
Architekturentwurf angewandte Geometrie auch den Gebrauch des Kreises
voraussetzte und somit der Nachweis einer Kreisstruktur in jedem Grundriß
weder ungewöhnlich noch notwendigerweise signifikant ist.41 Außerdem gibt es
keinen eindeutigen Beweis für die Annahme, daß die in mittelalterlichen
Quellen formulierte anthropomorphe Architekturauffassung mit derjenigen
Vitruvs identifiziert und dann praktisch wirksam wurde. Denn der im
Mittelalter und auch später häufig ausgesprochene Vergleich des Gebäudes mit
dem menschlichen Körper42 ist in zahlreichen Quellen völlig unabhängig von
seiner Formulierung durch Vitruv nachweisbar, und eine direkte praktische
Wirksamkeit dieser im Mittelalter allegorisch ausgelegten Auffassung dürfte
schwer nachzuweisen sein - zumal es sich bei anthropomorphen In-
terpretationen dieser Art um Auslegungen a posteriori handelte.43 Abgesehen
davon wäre zu klären, wie der vielleicht nur als Kopist tätige Kleriker Petrus
Diakonus, der neben zahlreichen anderen Autoren auch Vitruv (teilweise)
abschrieb, seine hierbei möglicherweise erworbenen architektonischen
Kenntnisse der Organisation eines mittelalterlichen Klosterbaus hätte wirksam
vermitteln können. Die ohne eine Klärung dieser Frage vorgebrachte Annahme,
daß ein Vitruvexzerpt tatsächlich architektonisch wirksam geworden sei,
scheint vielmehr auf einem sehr naiven Ikonologiekonzept zu beruhen, in dem,
ohne Berücksichtigung mittelalterlicher Bauorganisation und Entwurfspraxis,
eine direkte Verbindung zwischen Quelle und Bauwerk angenommen wird.
Ohne weitere Aufschlüsse über die Bauorganisation in Monte Cassino ist kaum
nachvollziehbar, wie ein Kleriker den Bauleuten die Verwendung eines in
einem antiken Traktat vermeintlich beschriebenen Entwurfsschemas empfahl -

39 T. THIEME, Montecassino: An Example of Planning in the Vitruvian Circle, in: Opuscula
romana 11.1976, S.127-142.

40 THIEME, Montecassino, S.127, bezieht diese Fehlinformation aus einer Verwechslung der
Fußnoten bei H. KOCH, Vom Nachleben des Vitruv (Deutsche Beiträge zur Alter-
tumswissenschaft 1), Baden-Baden 1951, S.15, Anm. 22.

41 Vgl. Kap. IX.

42 Vgl. die Quellen bei MORTET, Recueil, Bd.l, S.157-161, und Bd.2, S.183-188; H.
LIEBESCHÜTZ Das allegorische Weltbild der Heiligen Hildegard von Bingen (Studien der
Bibliothek Warburg 16), Leipzig/Berlin 1930, S.31-34; G. BANDMANN, Mittelalterliche
Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951, S.65, und REUDENBACH, In mensuram humani
corporis, S.675-676.

43 Vgl. MORTET, Recueil, Bd.l, S.159-160, Anm. 3.
 
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