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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0064
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54

KAPITEL III

zumal die Verwendung geometrischer Figuren wie Kreis und Quadrat jedem
Bauhandwerker geläufig waren.
Ebenso ist der Heiligen Hildegard von Bingen nachgesagt worden, daß sie
sowohl die Proportionslehre Vitruvs gekannt als auch die vermeintlich
kosmischen Implikationen von homo ad quadratum und homo ad circulum
interpretiert habe.44 Dies ist allerdings nicht eindeutig nachweisbar, denn
Hildegard benutzt ein anderes Proportionssystem als Vitruv, wenn sie etwa den
Kopf in drei Teile teilt (während Vitruv diese Aufteilung lediglich auf das
Gesicht - unter Ausschluß der Haare - anwendet). Es bleibt als eine Über-
einstimmung mit Vitruv die folgende Angabe:
Denn die Länge der menschlichen Gestalt und ihre Breite sind, wenn er Hände und
Arme gleichmäßig von der Brust ausstreckt, gleicher Größe, wie ja auch das
Firmament an Länge und Breite gleich ist. Und so hat der Mensch im Maß seiner
Länge und Breite, die in ihm gleiche Verhältnisse haben, auch ein Maß für das
Wissen um Gut und Böse, da er im Nutzen das Gute erkennt, im Unnützen indes
das Böse.45
Hildegard legt hier den Klafter moralisch aus und vergleicht die Eigenschaften
dieses anthropomorphen Standardmaßes mit den Dimensionen des Firmaments.
Dem Wortgebrauch Hildegards ist nicht zu entnehmen, ob sie hierbei auf Vitruv
zurückgreift. Selbst wenn sie auf eine antike Quelle hätte Bezug nehmen
wollen, wäre Solinus eine näherliegende Möglichkeit gewesen.46 Denn Solinus
war im 12. Jahrhundert weiter verbreitet als Vitruv (s.o.), und er macht
außerdem die für eine kosmische Visionärin vermutlich interessante
Bemerkung, daß ein Mensch mit ausgebreiteten Armen von den Physikern
»kleine Welt» genannt werde (vgl. Kap. I). Auch die Abbildungen, die
Hildegards Visionen illustrieren, weisen keine überzeugenden Parallelen mit
den Angaben Vitruvs auf. So haben die beiden Kosmosfiguren der Lucceser
Handschrift keineswegs (wie Vitruv angibt) ihren Nabel im Zentrum der sie
umschreibenden Kreise.47 Die Figuren gehören eher in die Tradition jener später
von Francesco Giorgi rezipierten Atlasdarstellungen (vgl. Kap. XII), die sich
sowohl bei Nicole Oresme als auch in Pseudo-thomistischen und ursprünglich
Averroischen Kommentaren zu Aristoteles' De coelo finden (s.u. und vgl.
Appendix 4).
Eine weitere Adaption der Vitruvischen Proportionsfigur hat man im
sogenannten »Mainzer Kopf mit der Binde« sehen wollen - dem einzigen
Überbleibsel einer Lettnerfigur des 13. Jahrhunderts.48 Da nur Fragmente dieser

44 DE BRUYNE, Esthdtique mödiövale, Bd.2, S.353-355; BRAUNFELS, Vom Mikrokosmos
zum Meter; REUDENBACH, In mensuram humani corporis, S.662-664; zu den tatsächlichen
Quellen vgl. H. LIEBESCHÜTZ, Weltbild der Hildegard.

45 Nam longitudo staturae hominis latitudoque ipsius, bracchiis et manibus aequaliter a pectore
extensis, aequales sunt, quemadmodum etiam firmamentum aequalem longitudinem et
latitudinem habet, quia etiam per mensuram longitudinis et latitudinis hominis, quae in ipso
aequales sunt, scientia boni et mali intelligitur, quae in utilitate bonum, in inutilitate vero malum
seit. HILDEGARD VON BINGEN, Liber divinorum operum simplicis hominis 1.4.15., PL197,
Sp.739-1038, Sp.814C; deutsche Übersetzung nach HILDEGARD VON BINGEN, Welt und
Mensch. Das Buch »De operatione Dei« aus dem Genter Codex übersetzt und erläutert von
Heinrich Schipperges, Salzburg 1965, S.86.

46 SOLINUS, Collectanea 1.93-94. Auf bisher unerklärte Übereinstimmungen zwischen
Hildegards Formulierung und dem persischen Bundahisn weist hin LIEBESCHÜTZ, Weltbild der
Hildegard, S.90 und S.95.

47 Vgl. HILDEGARD, Welt und Mensch, Ed. Schipperges, Abb.4 und 5.

48 Vgl. H. v. EINEM, Der Mainzer Kopf mit der Binde (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des
Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften 37), Köln 1955.
 
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