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VITRUV IN SPÄTANTIKE UND MITTELALTER

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sicheren Anhaltspunkte für eine wie auch immer geartete symbolische
Auslegung von homo ad quadratum und homo ad circulum liefern. Und selbst
eine solche Auslegung, deren quellenmäßige Grundlage sich erst mit den
Autoren des 16. Jahrhunderts zu entwickeln beginnt (vgl. Kap. XII-XIII), kann
auch im Falle des Dialogs Placides et Timeo nur vermutet werden, da der
anonyme Autor, wenn er nun tatsächlich auf Vitruv zurückgriff, dessen
Proportionsfigur lediglich als eine physiologische Angabe, nicht aber als eine
symbolische Form im heutigen Sinne rezipierte.
Auch im Fall des Dialogs Placides et Timeo beruht die Annahme einer
Wirksamkeit von Vitruvs Proportionsfigur größtenteils auf der Hypothese, daß
diese Figur einen gestaltenden Einfluß auf das mittelalterliche Denken hatte.63
Sowohl jene Annahme als auch diese Hypothese verlieren in Anbetracht der
wenig eindeutigen mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte jener bei Vitruv
beschriebenen Figur ihre Überzeugungskraft. Die suggestive Wirkung des heute
beinahe ausschließlich symbolisch verstandenen, auf Vitruv zurückgehenden
Mannes im Kreis und Quadrat hat im Mittelalter wahrscheinlich gar nicht
bestanden, denn die Belege für eine sowohl kontinuierliche als auch einheitliche
mittelalterliche Tradition und Interpretation dieses Bildes sind in höchstem
Maße zweifelhaft. Weiteren Anlaß zur Skepsis gibt der Umstand, daß der bei
Solinus tatsächlich im Sinne des Mikrokosmos ausgelegte Klafter in anderthalb
Jahrtausenden kaum Beachtung gefunden hat, daß also die mikrokosmologische
Begeisterung für Männer mit ausgestreckten Armen ein vergleichsweise junges
Phänomen ist (vgl. Kap. I). Eine ähnliche Überschätzung suggestiver Symbolik
liegt möglicherweise auch im Fall des kreisförmig umschriebenen Mannes vor,
denn die Formulierung Vitruvs ist nicht ganz so einzigartig, wie man bisher
annimmt. Einige Bemerkungen über die Kreisform des Menschen finden sich
schon bei Platon, der im Timaeus von einer ursprünglich runden menschlichen
Physis berichtet, die, um einer unkontrollierten Bewegung des Körpers auf
unebenem Gelände vorzubeugen, von Gott schließlich in die uns heute bekannte
Form umgewandelt wurde.64 Hierauf bezieht sich offensichtlich auch
Lactantius, der nicht nur die himmelsähnliche Rundung des Kopfes preist65,
sondern auch den kreisförmigen Querschnitt des nicht gänzlich zur Rundung
neigenden Körpers beschreibt. Doch dessen ursprüngliche Rundheit besteht
offenbar auf andere Weise fort, denn der Kopf als höchstes körperliches
Ornament ist nicht in jene bei Platon erörterte Rundung einbezogen (non est in
orbem coactus).66
Eine von Vitruv allem Anschein nach unabhängige Beschreibung eines
Mannes im Kreis schließlich findet sich in Alberts des Großen zwischen 1250
und 1270 verfaßter Schrift De animalibus:
Wird er [der Zirkel] mit dem feststehenden Fuß im Nabel aufgesetzt und in der
Entfernung des ausgestreckten Armes und der Hand bis zur äußersten Länge des
Mittelfingers herumgeführt, dann berührt dieselbe Peripherie an den Füßen den
äußersten Punkt der großen Zehen - vorausgesetzt der Körper ist gerade
ausgespannt; und die Breite von Oberarm zu Oberarm wird ein Drittel der
Gesamtkörperhöhe vom Scheitel bis zur Sohle betragen, und darüber bleibt eine
Handbreit, gemäß dem, was meßkundlich (gyometrice) palmus genannt wird, also

63 WTTTKOWER, Architectural Principles, S.15.

64 PLATON, Timaeus 16 (44d-45b).

65 LACTANTIUS, De opificio Dei vel formatione hominis 8, PL7, Sp.10-78, Sp.34.

66 Ebd. 5-7, Sp.24-33, bes. Sp.25 und Sp.33.
 
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