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KAPITEL III

die Breite der hohlen Hand oder der vier aneinandergelegten Finger. Und wenn es
anders ist, dann ist es ein Fehler oder ein Wunder. Die Entfernung von der
Öffnung des Halses bis zum Nabel gleicht der Entfernung, die sich zwischen dem
Nabel und dem Ende des Afterschließmuskels findet.67
Die Indizien, die in diesem Falle eine von Vitruvs homo ad circulum
unabhängige Formulierung anzeigen sind folgende: Wenn Albert Vitruv zitiert,
tut er dies in den bekannten Fällen wörtlich, bei gleichzeitiger Nennung seiner
Vorlage, De architectura (vgl. Appendix 3); in De animalibus stützt sich Albert
oft wörtlich auf medizinische Autoren ursprünglich arabischer Provenienz, doch
für den zitierten Abschnitt sind plötzlich keine direkten Vorbilder mehr
nachweisbar68; dieser Umstand schließlich legt einen Schluß nahe, den auch der
Wortlaut des zitierten Abschnitts stützt: daß Albert eine ihm selbst
gegenwärtige Anschauung beschreibt.
5. Atlas
Die Erörterungen Platons, Lactantius' und vor allem Alberts belegen, daß es in
Antike und Mittelalter von Vitruv unabhängige Spekulationen über die
Rundheit des Körpers gegeben hat. Daneben existierten auch Darstellungen des
Weltenträgers Atlas, der als ein im Kreis stehender Mann beschrieben wird.
Diese oft illustrierten Texte, die noch im 16. Jahrhundert rezipiert wurden,
könnten aufgrund ihrer für das 15. Jahrhundert nachweisbaren Häufigkeit noch
um 1500 wirkungsvoller gewesen sein als die heute eher bekannten Bilder von
Vitruvs Proportionsfigur (vgl. Appendix 4); so taucht der im Kreis stehende
Atlas noch bei Francesco Giorgi auf, und er wird in einem Aristote-
leskommentar des 16. Jahrhunderts unabhängig von Vitruvs Proportionsfigur
rezipiert.69 Die Tradition der in einem Kreis eingeschriebenen Atlasdarstel-
lungen entsprang jenen Kommentaren, die Averroes (1126-1198) zu
Aristoteles' De coelo verfaßt hatte und die später auch in den Bemerkungen des
Thomas von Aquin über dasselbe Werk auftauchten.70 Die lateinische Version

67 Adhuc autem pede immobili circumposito in umbilico et circumducto ad spatium extensi
brachii et manus usque ad medii digiti longitudinem tanget eadem peryferia extremitatem
pollicum in pedibus, si recte corpus extendatur, et latitudo ab humero in humerum subtripla erit
longitudini totius corporis a vertice summo capitis usque ad plantam pedis: et insuper habet
palmum secundum quod palmus gyometrice dicitur latitudo volae sive pectinis manus: et si aliter
est, error est et miraculum. Spatium etiam a foramine colli usque ad umbilicum aequatur spatio
quod est ab umbilico usque ad finem ficteris. ALBERTUS MAGNUS, De animalibus libri XXVI
nach der Cölner Urschrift. Herausgegeben von Hermann Stadler, 2Bde., Münster 1916-1920,
Bd.l, S.176 (1.2.26.).

68 Vgl. die Nachweise in der zitierten Ausgabe von Stadler.

69 Vgl. LUCILLIUS PHILALTHAEUS, In IIII. libros Aristotelis De coelo, & mundo,
commentarij [...], Venedig 1565, fols. 250, 502 und fol.547; vgl. Kap. XII.

70 Der arabische Text Averroes' wurde in das Hebräische und Lateinische übersetzt und hat
Nicole Oresme in der lateinischen Übersetzung von Johannes Scotus (entst. ca. 1230) vorgelegen.
Als Übersetzung aus dem Hebräischen lag mir die Mailänder Ausgabe von 1517 vor. Eine andere
lateinische Variante ist in der 1962 nachgedruckten Venezianischen Ausgabe von 1562, c.102
und c.l04A, zugänglich. Als Beispiel eines unillustrierten Kommentars lag mir vor GAETANO
VINCENTINO, In libros Arfistotelis] de celo & mu[n]do expositio [...], Venedig 1484, fol.hiiiiv.
Vgl. Appendix 4; G. ENDRESS, Die arabischen Übersetzungen von Aristoteles' Schrift De
Caelo, Phil. Diss., Frankfurt/M. 1966; S. G. NOGALES, Bibliografia sobre las obras de Averrods,
in: Actes du colloque international organisö ä l'occasion du 850e anniversaire de la naissance
d'Averrods, Paris 20-23 septembre 1976, Paris 1978, S.351-387, S.369.
 
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