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KAPITEL IV
um ihn herumgruppierten Figuren (Kreis und Quadrat) veranschaulichen die
Ermittlung des Maßes aus der Geometrie, während die abgebildeten Werkzeuge
(Zirkel, Senkblei und Winkelmaß) auf die praktische Bedeutung des Maßes
hinweisen. Dabei vereinigt die sowohl im Mittelalter als auch in der Antike
gängige Praxis von Entwurf und Ausführung in der Architektur die Figuren der
Geometrie - Kreis und Quadrat - mit ihren Instrumenten: Zirkel und Win-
kelmaß.
Die Begründung dafür, daß Taccola mit seiner Figur - allem Anschein nach
unabhängig von De architectura - ähnliche geometrische und anthropomorphe
Maßprinzipien veranschaulichte wie Vitruv, ist einfach. Im Jahre 1382 als Sohn
eines Weinhändlers in Siena geboren, wurde er aufgrund seiner erfolgreichen
Tätigkeit als Ingenieur und Architekt der »Sieneser Archimedes« genannt.
Seine Karriere verlief derjenigen Vitruvs nicht unähnlich, denn seinen kriegs-
und wasserbautechnischen Engagements folgte eine amtliche Stellung in der
Kommune Sienas. Beide Männer hatten sowohl eine technologisch fimdierte
Ausbildung als auch einen vergleichbaren Werdegang hinsichtlich ihrer An-
stellungen in den Bereichen des Maschinen- und Wasserbaus sowie später in
kommunalen oder in staatlich geförderten Funktionen. Eine Kontinuität von
Anschauungen bei Vitruv und Taccola sowie später auch bei Cesare Cesariano
basierte also auf der Herkunft dieser Männer, auf der Art ihrer Ausbildung und
ihrer praktischen Tätigkeit; denn sie bedienten sich anthropomorpher Veran-
schaulichungen, um den technischen und praktischen Zusammenhängen ihres
beruflichen Alltags einen bildhaften Ausdruck zu verleihen.
Ein weiteres Beispiel einer wahrscheinlich von Vitruv unabhängigen Figur
im Kreis findet sich bei Michele Savonarola (1384-1464), dem in Padua
geborenen Großvater Girolamo Savonarolas.4 Zu den prägenden Ereignissen
seiner Karriere zählten ab 1405 medizinische Studien an der Universität zu
Padua und ab 1440 seine Tätigkeit als Leibarzt der D'Este in Ferrara. Neben
seinen beruflichen Interessen hatte er offenbar auch eine Vorliebe für die
zeitgenössische padovanische Malerei, denn er widmete den Malern dieser
Stadt ein Kapitel seines biographischen Libellus de magnificis ornamentis
regiae civitatis Paduae von 1447.5 Diese Neigung drückt Michele auch in
seinem um 1442 (?) entstandenen Speculum physionomiae aus; dort berichtet er
zunächst ausführlich von den Symmetrien und Proportionen, die die ihm
bekannten Maler Paduas benutzen.6 Der von ihm bis in kleinste Details erörterte
Proportionskanon, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Pomponius Gauricus
ausführlich exzerpiert wurde7, ist prinzipiell mit dem von Cennino Cennini aus
der Werkstatt des Trecento überlieferten Schema identisch.8 Dieser Kanon, den
in verschiedenen Varianten sowohl die Künstler des 15. Jahrhunderts wie
Lorenzo Ghiberti, Filarete und Francesco di Giorgio (s.u.) als auch Theoretiker
4 Vgl. L. THORNDIKE, A History of Magic and Experimental Science, Bd.4, New York 1934,
S.183-214.
5 Vgl. C. GILBERT, Italian Art 1400-1500. Sources and Documents, Englewood Cliffs (New
Jersey) 1972, S.208-210; L. MURATORI, Rerum italicarum scriptores, Bd.24, Fasc.15, Bologna
1902, S.44-45, und S.55.
6 MICHELE SAVONAROLA, Speculum physionomiae, Paris, Bibliothöque Nationale, Ms.7357,
fols.lr-67r, fol.54v-58r; ich verdanke diesen Hinweis Michael Baxandall.
7 POMPONIUS GAURICUS, De sculptura. Edition annotöe et traduction par Andrö Chastel et
Robert Klein, Genf 1969.
8 CENNINO CENNINI, II libro dell'arte. A cura di F. Brunello e L. Magagnato, Vicenza 1971,
S.81-83 (d.i. Kap. 70).
KAPITEL IV
um ihn herumgruppierten Figuren (Kreis und Quadrat) veranschaulichen die
Ermittlung des Maßes aus der Geometrie, während die abgebildeten Werkzeuge
(Zirkel, Senkblei und Winkelmaß) auf die praktische Bedeutung des Maßes
hinweisen. Dabei vereinigt die sowohl im Mittelalter als auch in der Antike
gängige Praxis von Entwurf und Ausführung in der Architektur die Figuren der
Geometrie - Kreis und Quadrat - mit ihren Instrumenten: Zirkel und Win-
kelmaß.
Die Begründung dafür, daß Taccola mit seiner Figur - allem Anschein nach
unabhängig von De architectura - ähnliche geometrische und anthropomorphe
Maßprinzipien veranschaulichte wie Vitruv, ist einfach. Im Jahre 1382 als Sohn
eines Weinhändlers in Siena geboren, wurde er aufgrund seiner erfolgreichen
Tätigkeit als Ingenieur und Architekt der »Sieneser Archimedes« genannt.
Seine Karriere verlief derjenigen Vitruvs nicht unähnlich, denn seinen kriegs-
und wasserbautechnischen Engagements folgte eine amtliche Stellung in der
Kommune Sienas. Beide Männer hatten sowohl eine technologisch fimdierte
Ausbildung als auch einen vergleichbaren Werdegang hinsichtlich ihrer An-
stellungen in den Bereichen des Maschinen- und Wasserbaus sowie später in
kommunalen oder in staatlich geförderten Funktionen. Eine Kontinuität von
Anschauungen bei Vitruv und Taccola sowie später auch bei Cesare Cesariano
basierte also auf der Herkunft dieser Männer, auf der Art ihrer Ausbildung und
ihrer praktischen Tätigkeit; denn sie bedienten sich anthropomorpher Veran-
schaulichungen, um den technischen und praktischen Zusammenhängen ihres
beruflichen Alltags einen bildhaften Ausdruck zu verleihen.
Ein weiteres Beispiel einer wahrscheinlich von Vitruv unabhängigen Figur
im Kreis findet sich bei Michele Savonarola (1384-1464), dem in Padua
geborenen Großvater Girolamo Savonarolas.4 Zu den prägenden Ereignissen
seiner Karriere zählten ab 1405 medizinische Studien an der Universität zu
Padua und ab 1440 seine Tätigkeit als Leibarzt der D'Este in Ferrara. Neben
seinen beruflichen Interessen hatte er offenbar auch eine Vorliebe für die
zeitgenössische padovanische Malerei, denn er widmete den Malern dieser
Stadt ein Kapitel seines biographischen Libellus de magnificis ornamentis
regiae civitatis Paduae von 1447.5 Diese Neigung drückt Michele auch in
seinem um 1442 (?) entstandenen Speculum physionomiae aus; dort berichtet er
zunächst ausführlich von den Symmetrien und Proportionen, die die ihm
bekannten Maler Paduas benutzen.6 Der von ihm bis in kleinste Details erörterte
Proportionskanon, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Pomponius Gauricus
ausführlich exzerpiert wurde7, ist prinzipiell mit dem von Cennino Cennini aus
der Werkstatt des Trecento überlieferten Schema identisch.8 Dieser Kanon, den
in verschiedenen Varianten sowohl die Künstler des 15. Jahrhunderts wie
Lorenzo Ghiberti, Filarete und Francesco di Giorgio (s.u.) als auch Theoretiker
4 Vgl. L. THORNDIKE, A History of Magic and Experimental Science, Bd.4, New York 1934,
S.183-214.
5 Vgl. C. GILBERT, Italian Art 1400-1500. Sources and Documents, Englewood Cliffs (New
Jersey) 1972, S.208-210; L. MURATORI, Rerum italicarum scriptores, Bd.24, Fasc.15, Bologna
1902, S.44-45, und S.55.
6 MICHELE SAVONAROLA, Speculum physionomiae, Paris, Bibliothöque Nationale, Ms.7357,
fols.lr-67r, fol.54v-58r; ich verdanke diesen Hinweis Michael Baxandall.
7 POMPONIUS GAURICUS, De sculptura. Edition annotöe et traduction par Andrö Chastel et
Robert Klein, Genf 1969.
8 CENNINO CENNINI, II libro dell'arte. A cura di F. Brunello e L. Magagnato, Vicenza 1971,
S.81-83 (d.i. Kap. 70).