THEORETIKER UND PRAKTIKER IM QUATTROCENTO
71
abgeleitet seien.«39 Für Filarete also ist Vitruvs Anthropomorphismus eine
Bestätigung seiner eigenen, aus der Tradition des Mittelalters stammenden an-
thropomorphen Gebäudeauffassung. Viel weiter geht er mit seinem Interesse an
der Proportionsfigur Vitruvs nicht, denn er schenkt dem Klaftermaß nur eine
beiläufige Bemerkung und dem eigentlichen Kanon des antiken Architekten
überhaupt keine Aufmerksamkeit; vielmehr zitiert er eine Variante des von
Cennino Cennini bis Guillaume Philandrier beliebten Werkstattkanons40 und
bezweifelt, wie vor ihm schon Ghiberti, Vitruvs Angabe, daß der Nabel der
Mittelpunkt des Menschen sei.41 Doch immerhin, eine generelle Bemerkung
scheint er dem homo ad quadratum und dem homo ad circulum Vitruvs zu
widmen: »Was immer sei, der Kreis, das Rund und das Quadrat sowie jedes
andere Maß ist vom Menschen hergeleitet.«42 Gemäß dieser Formulierung
wären also der Kreis und das Quadrat als Maße zu verstehen; damit bezieht sich
Filarete allem Anschein nach auf den bei Vitruv selbst und später bei Cesare
Cesariano ausgeführten Umstand, daß im architektonischen Entwurf die
Dimensionen nicht nur in Form von Standardmaßen angegeben, sondern auch
mit Hilfe der Geometrie und ihrer Figuren konstruiert werden können. Die
Figur des Menschen verdeutlicht dabei den Zusammenhang zwischen dem an-
thropomorph gewonnenen Standardmaß einerseits und der anthropomorph
veranschaulichten Maßbestimmung durch die Geometrie andererseits.
Der praktische Wert des Anthropomorphismus ist begrenzt, denn lediglich
die anthropomorph erklärte und tatsächlich auch praktisch nachvollziehbare
Herleitung der Standardmaße aus dem menschlichen Körper hat eine
unverzichtbare Bedeutung in der architektonischen Praxis. Nichtsdestoweniger
muß der Vergleich des Gebäudes mit dem menschlichen Körper eine Bedeutung
gehabt haben, die über das rein praktische Maß hinausging. Der Topos taucht in
den ex posteriori Architekturinterpretationen mittelalterlicher Exegeten ge-
legentlich auf (vgl. Kap. III.3) und findet im Trattato Filaretes sowie in den
etwas später entstandenen Trattati Francesco di Giorgio Martinis die bis dahin
extensivste Ausführung. Im Fall Filaretes, also im Zusammenhang des
höfischen Bestrebens nach Kurzweil und Ergötzung, dient diese Denkfigur
(ähnlich wie das Wort »Denkfigur«) der sprachlichen Vergegenwärtigung eines
außersprachlichen Zusammenhangs mithilfe eines verständlichen, einprägsamen
und daher sowohl geläufigen als auch populären Vergleichs. Der An-
thropomorphismus gewährleistet die Mitteilbarkeit einer sonst hauptsächlich
visuell kommunizierten Materie; deren kurzweilige Erörterung im ergötzlichen
Rahmen höfischer Unterhaltung erforderte einen kompetenten Moderator, der
aufgrund architektonischer Qualifikationen die laienhafte Auseinandersetzung
mit der Baukunst zu stimulieren vermochte. Vor dem Hintergrund dieses
kurzweiligen Unterhaltungsprogramms für einen fürstlichen Hof kreierte
Filarete die Rolle des Architekten, der durch seine humanistischen
Verbindungen im höfischen Ambiente theoriefähig werden und durch seine
Theoriefähigkeit zur Unterhaltung der Hofgesellschaft beitragen konnte. Ob
dieses Modell bei Hofe tatsächlich funktionierte, ob die Höflinge sich
39 [...] a confermare il nostro proposito che tutte le misure siano dirivate da l'uomo [...]. Ebd.,
fols.3v-4r, S.20.
40 Ebd., fol.3v, S.19-20.
41 Ebd., fol.4r, S.20.
42 Ma quello che sia, el circulo, tondo, e'l quadro e ogni altra misura d dirivata da l'uomo. Ebd.,
fol.4r, S.21.
71
abgeleitet seien.«39 Für Filarete also ist Vitruvs Anthropomorphismus eine
Bestätigung seiner eigenen, aus der Tradition des Mittelalters stammenden an-
thropomorphen Gebäudeauffassung. Viel weiter geht er mit seinem Interesse an
der Proportionsfigur Vitruvs nicht, denn er schenkt dem Klaftermaß nur eine
beiläufige Bemerkung und dem eigentlichen Kanon des antiken Architekten
überhaupt keine Aufmerksamkeit; vielmehr zitiert er eine Variante des von
Cennino Cennini bis Guillaume Philandrier beliebten Werkstattkanons40 und
bezweifelt, wie vor ihm schon Ghiberti, Vitruvs Angabe, daß der Nabel der
Mittelpunkt des Menschen sei.41 Doch immerhin, eine generelle Bemerkung
scheint er dem homo ad quadratum und dem homo ad circulum Vitruvs zu
widmen: »Was immer sei, der Kreis, das Rund und das Quadrat sowie jedes
andere Maß ist vom Menschen hergeleitet.«42 Gemäß dieser Formulierung
wären also der Kreis und das Quadrat als Maße zu verstehen; damit bezieht sich
Filarete allem Anschein nach auf den bei Vitruv selbst und später bei Cesare
Cesariano ausgeführten Umstand, daß im architektonischen Entwurf die
Dimensionen nicht nur in Form von Standardmaßen angegeben, sondern auch
mit Hilfe der Geometrie und ihrer Figuren konstruiert werden können. Die
Figur des Menschen verdeutlicht dabei den Zusammenhang zwischen dem an-
thropomorph gewonnenen Standardmaß einerseits und der anthropomorph
veranschaulichten Maßbestimmung durch die Geometrie andererseits.
Der praktische Wert des Anthropomorphismus ist begrenzt, denn lediglich
die anthropomorph erklärte und tatsächlich auch praktisch nachvollziehbare
Herleitung der Standardmaße aus dem menschlichen Körper hat eine
unverzichtbare Bedeutung in der architektonischen Praxis. Nichtsdestoweniger
muß der Vergleich des Gebäudes mit dem menschlichen Körper eine Bedeutung
gehabt haben, die über das rein praktische Maß hinausging. Der Topos taucht in
den ex posteriori Architekturinterpretationen mittelalterlicher Exegeten ge-
legentlich auf (vgl. Kap. III.3) und findet im Trattato Filaretes sowie in den
etwas später entstandenen Trattati Francesco di Giorgio Martinis die bis dahin
extensivste Ausführung. Im Fall Filaretes, also im Zusammenhang des
höfischen Bestrebens nach Kurzweil und Ergötzung, dient diese Denkfigur
(ähnlich wie das Wort »Denkfigur«) der sprachlichen Vergegenwärtigung eines
außersprachlichen Zusammenhangs mithilfe eines verständlichen, einprägsamen
und daher sowohl geläufigen als auch populären Vergleichs. Der An-
thropomorphismus gewährleistet die Mitteilbarkeit einer sonst hauptsächlich
visuell kommunizierten Materie; deren kurzweilige Erörterung im ergötzlichen
Rahmen höfischer Unterhaltung erforderte einen kompetenten Moderator, der
aufgrund architektonischer Qualifikationen die laienhafte Auseinandersetzung
mit der Baukunst zu stimulieren vermochte. Vor dem Hintergrund dieses
kurzweiligen Unterhaltungsprogramms für einen fürstlichen Hof kreierte
Filarete die Rolle des Architekten, der durch seine humanistischen
Verbindungen im höfischen Ambiente theoriefähig werden und durch seine
Theoriefähigkeit zur Unterhaltung der Hofgesellschaft beitragen konnte. Ob
dieses Modell bei Hofe tatsächlich funktionierte, ob die Höflinge sich
39 [...] a confermare il nostro proposito che tutte le misure siano dirivate da l'uomo [...]. Ebd.,
fols.3v-4r, S.20.
40 Ebd., fol.3v, S.19-20.
41 Ebd., fol.4r, S.20.
42 Ma quello che sia, el circulo, tondo, e'l quadro e ogni altra misura d dirivata da l'uomo. Ebd.,
fol.4r, S.21.