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V. LEONARDO DA VINCI

Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß Leonardo da Vincis Darstellung der
Vitruvischen Proportionsfigur (Venedig, Accademia; Abb. 1) ebenso berühmt
ist wie ihr Autor selbst, wurde seine Zeichnung dieser Figur zum Anlaß
zahlreicher und oft wiederholter Interpretationen.1 Die wichtigsten Deutungen
dieser Art beziehen sich auf kosmologische und architekturtheoretische
Anschauungen, die Leonardo seiner Darstellung des homo ad quadratum und
homo ad circulum zugrundegelegt habe oder die ihr zugrundezulegen seien.2 Da
Leonardo um 1490, als die Venedig-Zeichnung entstand, zumindest theoretisch
auch als Architekt tätig war, ist angenommen worden, daß diese Zeichnung eine
Beziehung zu den Zentralbauskizzen hat, die neben zahllosen anderen Studien
in oft denselben Manuskriptblättern auftauchen wie die Proportions- und
Anatomiezeichnungen selbst.3 Demgegenüber findet sich in Leonardos
schriftlichem Nachlaß kein ausdrücklicher Hinweis auf eine Architekturauf-
fassung, die in Form der venezianischen Zeichnung ausgedrückt worden wäre.
Es wird daher Gegenstand des folgenden Kapitels sein, Leonardos Studie der
Vitruvischen Proportionsfigur in ihren ursprünglichen Zusammenhang zu
stellen.

1. Leonardos Zeichnung
Leonardos Zeichnung in der Venezianischen Akademie (343 x 245 mm, Feder
mit brauner Tinte, Silberstift und etwas brauner Wasserfarbe am Kopf und an
den Händen) ist im Jahre 1490 entstanden. Mit Leonardos Tod gelangte sie
1519 in den Besitz seines Schülers, Francesco Melzi, der sie 1523 bei seiner
Abreise aus Frankreich mit nach Mailand nahm. Da die Studie zu Vitruvs Pro-
portionsfigur im 18. Jahrhundert in Mailand, dem letzten Aufenthaltsort Melzis,
wiederentdeckt wurde, kann man annehmen, daß sie sich auch in den
vorangegangenen Jahrhunderten dort befunden hat. Sie wurde zuerst 1784 und
dann, mit einer korrekten Wiedergabe ihres Textes, erneut 1810 publiziert und
fand schließlich 1815 ihren endgültigen Aufbewahrungsort in der Akademie zu
Venedig.4

1 Vgl. C. PEDRETTI, The Literary Works of Leonardo da Vinci. Commentary, 2Bde., Oxford
1977, Bd.l, S.244-251; L. COGLIATI ARANO (Hrsg.), Disegni di Leonardo da Vinci [...] alle
gallerie dell'Accademia, Ausstellung, Venedig 1980, Nr.8. Der Text zur Vitruvstudie bei J. P.
RICHTER, The Literary Works of Leonardo da Vinci, 2Bde., 2.Aufl., London/New York/Toronto
1939, Bd.l, Par. 343. Vgl. auch J. P. McMURRICH, Leonardo da Vinci the Anatomist,
Washington 1930, S.71.

2 Vgl. C. PEDRETTI, Leonardo architetto, o.O. 1978, S.156-162; M. KEMP, Leonardo da Vinci,
London/Melbourne/Toronto 1981, S.114-il9; K. D. KEELE, Leonardo da Vinci's Elements of
the Science of Man, New York/London 1983, S.251-255; vgl. auch Einleitung und Kap. I.

3 Zu Leonardos Architekturverständnis vgl. RICHTER, Literary Works, Bd.2, S.19-82 (etwa
Par.l347A, d.i. Cod.Atl. fol.2700; PEDRETTI, Commentary, Bd.2, S.23-86, und PEDRETTI,
Leonardo architetto.

4 Vgl. PEDRETTI, Commentary, Bd.2, S.244-245, mit Literaturangaben.
 
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