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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0091
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LEONARDO DA VINCI

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befriedigendere Länge ist auch in der Zeichnung selbst eingetragen, denn
spätestens dort wäre Vitruvs überdimensionierte Fußlänge unangenehm
aufgefallen. Ausgehend vom Text Vitruvs, der eine Proportionstheorie auf der
Basis der Metrologie enthält, nimmt Leonardo diesen metrologischen Ansatz
auf, um dann seinerseits eine reine proportionstheoretische Auffassung zu
formulieren. In der Entwicklung von einer metrologisch fundierten zu einer
ästhetisch orientierten Proportionslehre wurde also die Ratio 1/6 wegen ihrer
übergroßen und daher unschönen Dimension aufgegeben. Da diese Ratio von
einem Siebenteil der Körperhöhe an keiner anderen Stelle in den Propor-
tionsstudien Leonardos auftaucht10, ist möglicherweise eine externe Quelle für
ihr Auftauchen verantwortlich. So könnte Leonardo von der Bemerkung des
Aulus Gellius, daß der Fuß eines wohlgestalteten Mannes 1/7 seiner
Körperhöhe nicht übersteige, angeregt worden sein.11 Gegen die einfachere
Erklärung, daß er den nach 1/6 kleineren Wert 1/7 genommen habe, spricht das
gänzliche Fehlen dieser Ratio in den sonstigen Proportionsstudien Leonardos.
Weiterhin sah sich Leonardo mit dem Problem konfrontiert, daß die Propor-
tionen Vitruvs einander widersprechen. Der ursprünglichen Texttradition war
nämlich zu entnehmen, daß die Entfernung vom oberen Ende der Brust (ab
summo pectore) bis zum untersten Haaransatz 1/6, bis zum Scheitel aber 1/4 sei
(3.1.3.). Da diese Angaben einer rechnerischen Überprüfung nicht standhalten,
wurde der Text Vitruvs seit dem 19. Jahrhundert mit einer Konjektur versehen,
die diesen Widerspruch mehr oder weniger elegant beseitigt (vgl. Kap. 11.2).12
In den Texten, die Leonardo zur Verfügung gestanden haben konnten, also in
der editio princeps von 1486 und in den bis dahin bekannten Manuskripten,
fehlte diese Konjektur natürlich (vgl. Kap. VIII.2). Noch in der um 1500
entstandenen Vitruvübersetzung Buonaccorso Ghibertis findet sich eine
kritiklose Übernahme der Vitruvischen Angaben13, und auch Francesco di
Giorgio Martini vermochte in seiner frühen Traktatversion diesem Problem
nicht beizukommen.14 Der Vitruvübersetzer Fabio Calvo ändert zwischen 1514
und 1515 einfach den fraglichen und fragwürdigen Wert von 1/4 in 1/5 um15,
und erst Cesare Cesariano, 1521, bietet in seiner italienischen Vitruvausgabe
überraschenderweise die bis heute gültige Konjektur da mezo il pecto.'6
Eben diese Verbesserung, die heute in jeder Vitruvedition auftaucht, hat auch
Leonardo vorgenommen, doch weitaus präziser und in arithmetischer

10 Vgl. G. FAVARO, II canone di Leonardo, in: Atti del Reale istituto Veneto di scienze, lettere
ed arti, 77.1917, S.167-227, S.176.

11 GELLIUS, Noctes atticae 3.10. Eine erst später, auf 1499/1500 zu datierende Bemerkung läßt
den Schluß zu, daß Leonardo Gellius (ed. princ. 1469) gekannt hat; vgl. RICHTER, Literary
Works, Bd.2, Par. 1152.

12 Die Konjektur taucht erst in den bis heute maßgeblichen Ausgaben von V. Rose, Leipzig 1867
und 1899, auf. Der Widerspruch ist oft bemerkt worden, etwa durch Cesariano (vgl. Kap. IX) und
GUILLAUME PHILANDER, Vitruvii Pollionis de architectura libri decem, Lyon 1586, S.83
(zuerst 1544 erschienen), oder BERNARDO GALIANI, L'Architettura di M. Vitruvio Pollione,
Neapel 1758, S.94/95.

13 Vgl. G. SCAGLIA, A Translation of Vitruvius and Copies of Late Antique Drawings in
Buonaccorso Ghiberti's »Zibaldone«, in: Transactions of the American Philosophical Society
69.1979, S.3-30, S.21 (d.i. fol. 6?.

14 Vgl. FRANCESCO DI GIORGIO, Trattati di architettura, Bd.l, S.68 (zit. Kap. IV.4).

15 Vgl. Vitruvio e Raffaello. Il »De architectura« di Vitruvio nella traduzione inedita di Fabio
Calvo Ravennate a cura di V. Fontana e P. Morachiello, Rom 1975, S.144 und S.477.

16 CESARE CESARIANO, Di Lucio Vitruvio Pollione de architectura libri X, Como 1521,
fol.48r.
 
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