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KAPITEL V

Körperhöhe lang wie die daneben eingetragenen Breiten- und Längenpropor-
tionen des Rumpfes. Problematischer geht es auf den anderen Blättern zu;
W.19130r [25r] offenbart Leonardos Unsicherheit gegenüber Vitruvs
zweifelhafter (s.o.) Angabe, daß der Abstand von der Brusthöhe bis zum
Haaransatz 1/6 sei. Sein diesbetreffender Satz bricht nämlich unvermutet ab:
Von den Haarwurzeln bis zur Höhe der Brust a b sei der sechste Teil der Höhe des
Menschen und dieses Maß sei ähnlich ...29
Da Leonardo schließlich zu der Lösung kam, die Ratio von 1/7 einzusetzen,
dürfte diese Zeichnung der endgültigen Erledigung des bei Vitruv gegebenen
und oben erörterten Problems direkt vorausgegangen sein.
Das fragwürdige Maß von 1/6 taucht auch in W.19131r [261 auf, allerdings
nur mittelbar. In der oberen Darstellung eines ausgestreckten Armes wird der
gesamte Arm durch das Ellenbogengelenk in zwei gleiche Teile geteilt. Unter
Zuhilfenahme einer Zeichnung im Codex Huygens (fol.61^, die ein hiermit in
Verbindung stehendes und heute verlorenes Original wiedergibt30, kann man
schließen, daß hier der toskanische braccio, bestehend aus 2 Fuß, dargestellt ist.
Gemäß dem toskanischen metrologischen System (nicht zu verwechseln mit
alten römischen Systemen, die an anderen Orten noch gültig sein konnten; s.o.)
ist der braccio 1/3 und somit der Fuß 1/6 der Körperhöhe.31 Wie oben erläutert
wurde, wandte sich Leonardo in der venezianischen Zeichnung vom
überdimensionierten Fuß ab und einer anderen Lösung zu, einer Lösung, die
sich bereits auf demselben Blatt anbahnt. Der Ellenbogen als Mitte wird zwar
beibehalten (so zumindest suggeriert es irreführenderweise der begleitende
Text), doch in der darunterliegenden Skizze geht Leonardo über das Maß des
braccio hinaus und erhält so zweimal die Ratio von 1/4, was zusammen einem
halben Klafter entspricht. Dabei seien es, wie auch in der venezianischen Zeich-
nung, sowohl von der Handspitze bis zum Ellenbogengelenk als auch von dort
bis zur Brustmitte 1/4 der Körperhöhe (diese Angabe wird wörtlich noch einmal
in dem erwähnten Blatt des Codex Huygens ausgeführt). Leonardo wechselt
also vom braccio des toskanischen Maßsystems zum vier cubiti enthaltenden
Klafter über, was erneut belegt, welchen Stellenwert dieses alte Längenmaß in
Leonardos Rezeption der Vitruvischen Proportionsfigur hatte.
Man kann mithilfe dieser und weiterer Beobachtungen ähnlicher Art genau
verfolgen, wie Leonardo sich zur Vitruvischen Proportionszeichnung
vorarbeitete und deren ursprünglichen Kanon schließlich relativierte. Seine
Vorgehensweise basierte dabei auf drei verschiedenen Voraussetzungen,
nämlich auf seinen gerade gewonnenen anthropometrischen Kenntnissen, auf
den geläufigen metrologischen Systemen (deren es in Italien seinerzeit viele
gab, oft variierend von einer Stadt zur anderen) sowie schließlich auf Vitruvs
Proportionen und ihren metrologischen Grundlagen. Dabei nahm Leonardo
zunächst nur den homo ad quadratum und unterwarf seine Längen- und
Breitenmaße der dominierenden Ratio von 1/4. Nachdem er diesem Gerüst die
anderen Dimensionen eingearbeitet hatte, zeichnete er schließlich den homo ad
circulum ein, der in keiner offensichtlichen Beziehung mehr zu den
anthropometrischen Studien steht.

29 dalle radjci dechapegli alla somjta delpetto a b fia lasesta parte dellaltezza dellomo e questa
misura sia simjle ..., zit. nach KEELE/PEDRETTI, Corpus, Bd.l, S.44.

30 Vgl. PANOFSKY, Codex Huygens, S.46, und PEDRETTI, Commentary, Bd.l, S.252/253.

31 KEELE/PEDRETTI, Corpus, Bd.l, S.46.
 
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