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Adler, Friedrich
Baugeschichtliche Forschungen in Deutschland (Band 1): Die Kloster- und Stiftskirchen auf der Insel Reichenau — Berlin, 1870

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https://doi.org/10.11588/diglit.7766#0010
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(i

Dieses für die baugeschichtliclie Analyse sehr wichtige
Resultat ergiebt sich aus folgender Betrachtung.

In Gallus Oheim's Zeit (in der zweiten Hälfte des
XV. Jahrhunderts) waren 17 Altäre in der Münsterkirche
vorhanden, welche dieser Chronist in einer bestimmten und
leicht übersichtlichen Reihenfolge nennt. Nämlich in die
Kirche eintretend, nennt er erst links die sechs an der nörd-
lichen Seitenschiffswand stehenden: Benedikt, Pirmin, Ja-
nuarius, Nicolaus, Fides und Anna. Dann bezeichnet er die
Altäre im „Mittel des Münsters", den Hochaltar St. Maria,
St. Michael „uff der cantzel", d. h. innerhalb der Chorschran-
ken, westlich vor der Vierung, dann St. Trinitatis „nnder der
cantzel zu der linggen sitte", d. h. am ersten nördlichen
Mauerpfeiler vor dem Chore (später in das nördliche Kreuz-
schiff verlegt); dann St. Johannes Evangelista „under der
cantzel an der rechten sitfen", d. h. am ersten südlichen
Mauerpfeiler, entsprechend dem St. Trinitatis-Altare (später
in das südliche Kreuzschiff verlegt); endlich St. Markus-
Altar in dem Chor. Zuletzt nennt er wieder die sechs
Altäre „der gerechten sitten", d. h. an der südlichen Seiten-
schift'swand: Altar der zwölf Bolen, St. Johannes Baptista,
Gallus, des heiligen Kreuzes, Fortunata und Allerheiligen. In-
dem er hiermit schliefst, lehrt diese Uebersicht, dafs der Markus-
Altar „in" oder „vor der Westapsis" gestanden sein mufs.
Dann konnte aber dieser westliche Theil des Mittelschiffs —
Westchor und Vierung — sehr wohl St. Ma rku s-Kapelle oder
rühmend Kathedrale genannt und, weil Abt Berno dieselbe
gebaut, auch später zu seiner Grabstätte gewählt werden.
Berno's Grabstein hat, wie Oheim erzählt, auch wirklich bis
über die Mitte des XV. Jahrhunderts hinaus hier gelegen und
ist erst damals entfernt worden. Diese Stellung aller Altäre
wird überdies von einer auf die im Jahre 1477 stattgefundene
Einweihung bezüglichen Handschrift7') im Wesentlichen be-
stätigt, ja dadurch noch schärfer präcisirt, dafs bei dem Markus-
Altar ausdrücklich die Stellung, als „in choro s. marci"
angegeben wird. Es ist daher an der Thatsache, dafs der
westliche Chor der Kirche damals St. Markus-Chor hiefs,
schwerlich zu zweifeln. Wegen dieser doppelchörigen Anlage
wird die Kirche, welche in älterer Zeit nur der Jungfrau
Maria und den Apostelfürsten Peter und Paul geweiht erscheint,
später sehr oft: „unser lieben Frowen und sant Marx münster"
genannt. So bei Oh eim S. 1 dQ ; oder bei S ch ö nh u th S. 267 ;
auch werden 1236 Verhandlungen „in Sant Marxen Chor" vor-
genommen 7 6).

Bruschius, welcher schon aus zweiter Quelle schöpfte
und nicht immer zuverlässige Nachrichten erhielt, bezieht die
glänzende Einweihung des Jahres 1048 auf einen völligen
Neubau, indem er von Berno sagt: „Construxit summam
Basiiicam Augiensem"'11). Da aber Herrmann der Lahme
als Zeitgenosse und Festtheilnehmer von einer Einweihung
der St. Marienkirche schweigt , und nur diejenige der St.
Markus-Cathedrale erwähnt, so folgt daraus mit Sicherheit,
dafs Bruschius irrt und Berno's Bau kein völliger sondern
nur ein theilweiser Neubau war, welcher die Westhälfte be-
traf. Erinnert man sich nun der oben erwähnten aber nicht
genauer bekannten Feuersbrunst des Jahres 1007 , so läfst
sich vermuthen, dafs Berno's Bau durch diese Verwüstung
veranlagst worden war und mit Rücksicht, auf die inzwischen
sehr gestiegene Verehrung und allgemeinere Anerkennung des
St. Markus-Leibes — als der Hauptreliquie des Klosters
— zu einem stattlichen Westchorbau mit Kreuzschiff erwei-
tert wurde. Sind aber die aus Witigowo's Bauthätigkeit stam-
menden westlichen Bautheile der Kirche schon damals unter-
gegangen und durch einen Neubau verdrängt worden , so
erklärt, sich noch besser die oben hervorgehobene Thatsache,
dafs der Ruhm des baulustigen Abtes Witigowo trotz Pur-
chard's Verse so rasch verdunkelt wurde und bei Herrmann
dem Lahmen keine Erwähnung mehr fand.

Ein Jahr nach Berno's Tode — 1040 — wurde in der
„nach römischer Sitte" erbauten Kapelle St. Adal-
bert der Hochaltar vom Papste Leo IX. geweiht'8). Oheim

7 5) Bei Mone I, 240. — Mone's Versuch, mit Hülfe dieses Schrift-
stückes die Planbildung der Münslerkirche zu erklären, ist nicht geglückt.
;e) Schönhuth a. a. O. 177.
77) Bruschius Chronol. Monaster. Germ. 41.

7 8) Herrm. Contr. ad a. 1049 erwähnt zwar der Anwesenheit des
Papstes, aber nicht der stattgehabten Feierlichkeit. Doch citirt Oheim

kannte bereits nicht mehr den Stifter oder die Stiftungszeit
dieses Gotteshauses. Doch läfst sich das Datum annähernd
ermitteln. Höchstwahrscheinlich war diese St. Adalberts-
Kapelle um das Jahr 1000, zu einer Zeit, wo das Märtyrer-
thum des Preufsenapostels Adalbert besonders von dem Kaiser
Otto III. durch Stiftungen zu Rom, Gnesen und Aachen ge-
ehrt wurde, gegründet worden und empfing nur 1049 (50
Jahre nach der Gründung!) einen neuen Hochaltar. Jetzt
ist diese in der Mitte der Insel (auf dem Ergard) belegene
Kapelle seit 1832 abgebrochen und nur die Ueberlieferung
noch vorhanden, dafs es eine ein schiffige Kreuzkirche war.
Es mufs daher zweifelhaft bleiben, ob der Ausdruck „nach
römischer Sitte" auf die technische Herstellung in be-
hauenen Quadern oder auf die Planbildung einer einschiffigen
Kreuzkirche mit einem Vierungsthurme zu beziehen ist.

Fünf Jahre später, 1054, im Todesjahre Herrmann's des
Lahmen, empfing die oben erwähnte Pfarrkirche St. Johannes
wohl in Folge eines Umbaues — eine neue Weihe.

Mit diesem Zeiträume schliefst die ruhmvolle und glän-
zende Epoche Reichenau's. Zunächst wurden die alten, auf
Gehorsam und friedlichen Verkehr gegründeten Verhältnisse
des Innern durch Zwietracht bei den nächsten Abtswahlen
erschüttert; sodann der Wohlstand des Stiftes durch hart-
näckigen Streit über Güter und Gerechtsame mit den Kon-
Stanzer Bischöfen untergraben. Der aus beiden Ursachen be-
wirkte Verfall war 1065 schon so stark hervorgetreten, dafs
der junge König Heinrich IV., bei einem Besuche des Klo-
sters, die Besitzungen und Rechte aufs neue urkundlich zu
Stehern suchte79). Bei weitem schwerer traf aber der bald
darauf sich entwickelnde Kampf zwischen der altkaiserlichen
Gewalt und den neuen päpstlichen Ansprüchen das Kloster.

Der strenge mönchische Geist, der von Cluny aus
nach Deutschland und Italien vordrang, fand anfangs in den
alten deutschen Benediktiner-Klöstern zu Fulda, zu Lorsch,
zu St. Gallen und Reichenau keinen günstigen Boden. An
allen diesen Culturstätten hielt man mit deutscher Zähig-
keit „an der alten grammatisch - classischen Bildung fest,
welche den Cluniacensern ein Gräuel war"80). Dennoch ge-
lang es dem Einflüsse und der rastlosen Thätigkeit der Aebte
von Cluny, auch in Alamannien festen Fufs zu fassen. Die
Klöster des Schwarzwaldes, theils neu begründet theils re-
forrnirt, wurden wie einzelne sächsische Klöster ein Ilaupt-
sitz der gregorianischen Richtung. Ihr Einflufs, von enthu-
siastischen Anhängern Gregor's VII. stets neu belebt, durch
unkluge Maafsregeln Heinrich's IV. nicht selten gefördert, war
den Strömungen der Zeit entsprechend, im raschen Wachsen.
Schon Berthold, der Schüler Herrmann's des Lahmen, stand
offen gegen den Kaiser, ihm gegenüber wieder andere Mönche,
welche eingedenk der hochgeachteten Stellung des Kaiser-
hauses, dem ungestümen Eifer des Papstes nicht folgen
mochten. In Reichenau wie in St Gallen trennte sich der
Convent in zwei Parteien, von denen bald die eine, bald die
andere Triumphe zu feiern oder Niederlagen zu betrauern
hatte. Abt Ekkehard von Reichenau stand auf Gregor's Seite,
während in St. Gallen Abt und Convent mit Ausdauer für
die kaiserliche Sache fochten. Der aus diesen unseligen Ver-
hältnissen entsprungene Kampf trennte nicht nur jahrelang
beide Stifter, sondern erschütterte auch ihren Wohlstand durch
gegenseitiges Berauben, Niederbrennen und Zerstören ihrer
Besitzungen auf das Tiefste. Es ist begreiflich, dafs in so
wildem Getümmel das alte wissenschaftliche Streben erlahmen
und bald für immer ersterben mufste.

Noch vor dem Ablauf des XI. Jahrhunderts wurde Frank-
reich, durch den Erfolg des ersten Kreuzzuges mächtig ge-
hoben und durch den entsetzlichen Bürgerkrieg in Deutsch-
land nicht wenig begünstigt, das Hauptland der Kirche;
Paris zumal der Sitz der theologischen Gelehrsamkeit. Neue
kirchliche Orden gingen von Frankreich aus, Prämonstra-
tenser, Cistercienser, Kalthäuser u. A. Ihre theilweis sehr
praktischen Bestrebungen kamen den neuen Zeitideen mehr
entgegen, als die schlichte Wirksamkeit der älteren Benedik-
tiner. Was Wunder, dafs diesen, deren Ruhm von Jahrzehnd
zu Jahrzehnd mehr erblich, zuletzt nichts weiter übrig blieb,

die darauf bezügliche völlig unverdächtige Inschrift des Altursfeins. so
dafs an dem Faktum nicht zu zweifeln ist.

7Ü) Dümge 57 S. 109.

"j Wattenbach 320.
 
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