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Adler, Friedrich
Baugeschichtliche Forschungen in Deutschland (Band 1): Die Kloster- und Stiftskirchen auf der Insel Reichenau — Berlin, 1870

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https://doi.org/10.11588/diglit.7766#0012
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1610 '0 °). Während des 30jährigen Krieges litt die Insel
ebenso sehr durch den Angriff einzelner Parteigänger, wie
durch die Ansprüche zügelloser Vertheidiger. Damals gingen
viele Kirchenschätze und Bücher verloren.

Von einer letzten Renovation wird um das Jahr 1738
berichtet. Doch hat dieselbe nur Altarverlegungen, Decken-
erneuerungen, Fensterumformungen etc. betroffen. Im Jahre
1757 erfolgte von bischöflicher Seite aus die gänzliche Auf-
hebung des Klosters und die theilweis harte Ausweisung der
letzten Conventualen. Der Gottesdienst, anfangs von 12 Mis-
sionaren aus schwäbischen Klöstern besorgt, wurde 1799 an
drei Weltpriester übertragen. Die Besitznahme Reichenau's
von Seiten Badens fand 1802 statt, wobei die noch geretteten

Bücher und Urkunden grofsentheils nach Carlsruhe gelang-
ten. Das neunzehnte Jahrhundert brachte fortgesetzte Zer-
störungen; abgebrochen wurden 1812 die dreischiffige Pfarr-
kirche St. Johannes, 1832 die Kreuzkirche St. Adalbert, 1836
die Pfalz, 1838 die Kirche St. Pelagius, das Markusthor und
der kleinere Glockenthurm. Nach der 1825 bewirkten Ver-
steigerung vieler Grabsteine101), Abtragung einzelner Altäre
und der Entfremdung kleinerer Kunstalterthümer ist der Be-
sitzstand an alten Denkmälern stark zusammengeschmolzen.
Aufser der unbedeutenden Burgruine Schopfein am Eingange
der Insel stehen nur die Klosterkirche zu Mittelzell, sowie die
Stiftskirchen von Oberzell und Niederzell noch aufrecht und
werden gottesdienstlich benutzt.

I. Stiftskirche St. Peter und Paul in Niederzell.

Diese Kirche, deren äufsere Erscheinung auf Bl. II, Fig. 3,
deren Grundrifs auf Bl. III, Fig. 2, und Details auf Bl. V,
Fig. 1—5, dargestellt worden sind, liegt am untersten Ende der
Insel, hart am Seeufer. Sie bildet eine kleine dreischiffige
Säulen-Basilika von je fünf Arkaden mit drei Apsiden, welche
nach aufsen nicht vortreten, sondern in einer Flucht liegend
plattgeschlossen sind. Ueber den Nebenapsiden stehen zwei
quadratische mit glasirten Ziegeln gedeckte Glockentürme.
Die Nebenchöre, nur am östlichen Ende mit Tonnengewölben
bedeckt, sonst mit Holzdecken versehen, liegen in der Ver-
längerung der Seitenschiffe, und waren durch noch vorhandene
Westthüren A A von dorther früher zugänglich, bevor die
jetzt vorhandenen Nebenaltäre St. Petronella und St. Trini-
tatis errichtet wurden. Vor dem Westportal befindet sich
eine niedrige quadratische Vorhalle, unter derselben ein un-
zugängliches Gewölbe.

Das Aeufsere ist, soweit die häufige Uebertünchung dies
erkennen läfst, schmucklos behandelt, doch von ansprechen-
den Verhältnissen. Das Innere ist in sehr eleganten Formen
des Rococo im vorigen Jahrhundert niodernisirt und dabei
die Fenster des Langhauses vergröfsert und flachbogig ge-
staltet worden. Der üppig aufgebaute Hochaltar entspricht
derselben Epoche. Abgesehen von diesen leicht erkenn- und
datirbaren Zusätzen und Veränderungen, zeigen sich die
oberen Thurmstockwerke mit gepaarten spitzbogigen Schall-
Öffnungen in den reducirtesten Formen, sowie das grofse zwei-
theilige Maafswerksfenster mit Fischblasen in der Hauptapsis
als der spälgothischen Epoche angehörig. Diese Bautheile
sind wegen ihrer unverkennbaren Verwandtschaft mit dem
Chorbau von Mittelzell der Bautätigkeit des Abts Johann
Pfuser um 1477 zuzuschreiben. (Vergl. den Querschnitt Bl. IV,
Fig. 3.)

Das dreischiffige Langhaus, einschliefslich der Chorgurt-
bögen und des Hauptportals läfst durch die einheitliche Be-
handlung in der Technik wie in den Detailformen auf eine
zusammenhängende Bauausführung sehliefsen. Die stämmigen
Säulen (Fig. 2 und 4 auf Bl. V) sind verjüngt und leis ge-
schwellt. Ihre Kapitelle, sowie die theilweis verdeckten Basen
sind fast alle verschieden. Die Kapitelle zeigen den Typus
gedrückter rundschildiger Würfelkapitelle, theils mit schnur-
oder tauartigen Umrahmungen, theils mit derben klotzigen
Eckstützen versehen. Einzelnes ist geradezu ungeschlacht zu
nennen. Die Basen, nur aus Plinthe, Pfühl und oberer Heft-
sehnur bestehend, sind mit langen sporenartigen Blättern auf
den Ecken, zum Theil auch in der Mitte belegt. In der Viel-
heit der Formen, sowie in ihrer höchst ungleichen Fassung
und Behandlung spricht sich unverkennbar eine Freude an
Versuchen, ein gewisses künstlerisches Streben mit bäurischer
Naivetät aus. Daneben finden sich reinere und bessere For-
men, wie die Vierungs- und Apsispfeiler, Fig. 1 und 5 auf
Blatt V. Aus gleichen Gliedern, der abgestuften Oberplatte
und einer schlanken Hohlkehle setzen sich auch die Gurt-
gesimse über den Schiffsarkaden zusammen. Das Hauptportal,
welches der Holzschnitt darstellt, ist endlich am reichsten be-
handelt. Es ist mit eingeblendeten Säulchen nebst Würfel-
kapitellen und Wulstbogen versehen, aber dadurch sehr cha-

lw0) Das bereits oben erwähnte Oelgemtildo stellt den vollendeten Neu-
bau im Wesentlieben so dar, wie er heut noch erhalten ist.

ireibung.

rakteristisch gestaltet, dafs die 5 Zoll vorspringende abgefafste
Plinthe ganz herumgeführt worden ist. Diese Eigenthümlich-

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keit gestattet schon den Schlufs, dafs das Portal dem XII.
Jahrhundert, der zweiten Epoche der romanischen Baukunst
angehört. Wenn man nun annimmt, dafs hier — wie so oft
im Mittelalter — sehr verschiedene Hände an dem Erweite-
rungsbau thätig gewesen sind, weil eine Concentration von vor-
züglichen Arbeitskräften an einer so entlegenen Baustelle wie
Reichenau überhaupt schwierig war, so liegt kein Grund vor,
die dreischiffige Langhausanlage von diesem Portal zeitlich zu
trennen, zumal die geschilderten Kunstfonnen des Innern
ebenfalls unzweifelhaft im XII. Jahrhundert entstanden sind.
Ich bin daher geneigt, die oben mitgetheilte Nachricht, dafs
Kaiser Friedrich Barbarossa im Jahre 1164 diese Kirche und
ihren Propst Herrmann in seinen und des Reiches Schutz
genommen hat, so zu erklären, dafs Herrmann, als der Er-
bauer, nach Fertigstellung seines für die damaligen Verhält-
nisse sehr stattlichen Erweiterungsbaues die Gelegenheit der
Anwesenheit des Kaisers benutzt hat, um jenen Schutzbrief
für seine Kirche zu erwerben. In keinem Falle wird man
viel irren, wenn man diesen Erweiterungsbau, der seinem gan-
zen Habitus nach das erste Aufathmen nach langem Still-
stande in jeder Bauthätigkeit bezeichnet, auf ca. 11 50 datirt.

Von dem Langhause ist der ganze Osttheil mit den drei
Chören und Apsiden trotz des Hinübergreifens einzelner Bau-
formen völlig zu trennen. Dafs der Osttheil älter ist als das
Langhaus, beweisen schon die beiden Thüren^, denen jetzt die
Seitenschiffsnebenaltäre vorgebaut sind. Diese Thören führten
ursprünglich entweder ins Freie oder in einen Vorhof. Ihre
sehr alterthümliche Struktur von innen gesehen giebt Fig. 3
auf Bl. V zu erkennen. Gröfsere Platten von Keupersandstein
bilden die Umrahmungen und die Entlastungsbogen über den

101) Oheim 108 Kote 5.
 
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